Wien als postmigrantische Stadtgesellschaft

Migration ist die Stadt

Das Stadtfestival Wienwoche leistet Erste Hilfe für die österreichische Mehrheitsgesellschaft.

Ich komme aus einer unterfränkischen Familie, in der alle fünf Brüder meines Vaters überzeugte Katholiken und CSU-Wähler sind. Nur mein Vater, der in den siebziger Jahren nach Rheinland-Pfalz auswanderte, muss notgedrungen die CDU wählen. Als ich Ende der achtziger Jahre mit einer Freundin nach Wien reisen wollte, warnten die Brüder meines Vaters meine Mutter davor, ihre Tochter in diese Stadt fahren zu lassen, schließlich sei Wien das »Tor zum Orient« und damit voller Gefahren. Wir fuhren natürlich trotzdem hin und fanden eine eher verschlafene Stadt mit angestaubtem Charme an der geographischen Peripherie des endenden Kalten Kriegs vor.
Kürzlich war ich sogar für zwei Jahre in Wien. Der Staub ist jetzt weg und Wien so modern wie jede andere europäische Großstadt. An einem Abend erklärte mir ein Freund schmunzelnd beim Bier, dass sich dieses Jahr das Anwerbeabkommen Österreichs mit der Türkei zum 50. Mal jähre und damit die »dritte Belagerung Wiens«. Da fiel mir die Warnung meiner Onkels vor dem »Tor zum Orient« wieder ein, eine exotistische Metapher, die wohl auf die beiden Versuche des Osmanischen Reichs, 1529 und 1638, rekurriert, Wien zu erobern. Tatsächlich erscheint die Liste der sogenannten Besiedlungen und Belagerungen der Stadt endlos. Um Wien kämpften bekanntermaßen nicht nur die Osmanen, sondern bis ins 19. Jahrhundert hinein auch Ungarn, Tschechen, Franzosen, Böhmen, Schweden und nicht zuletzt Bayern und Preußen. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war Wien Hauptstadt des österreich-ungarischen Empire, eines multireligiösen Vielvölkerstaats, in dem jeder und jede mindestens drei Sprachen beherrschte, wie Eric Hobsbawm, der seine Kindheit in Wien verbrachte, in seiner Biographie bemerkt.
Auch die jüngere Einwanderungsgeschichte ist ziemlich komplex. In den fünfziger und sechziger Jahren kamen Tausende sogenannter Regime-Flüchtlinge aus Ungarn und der Tschechoslowakei nach Wien, in den achtziger Jahren jene aus Polen und in den neunziger Jahren Kriegsflüchtlinge aus den Balkanstaaten. Mitte der sechziger Jahre unterzeichnete Österreich Anwerbeabkommen mit der Türkei und Jugoslawien, und so trafen zahlreiche Arbeiter und Arbeiterinnen aus diesen Ländern im Industriestandort Wien ein. Nicht zuletzt ist die Stadt mit der größten Universität Europas und knapp 100 000 Studierenden seit vielen Jahren Ziel Tausender Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus aller Welt. Daneben lebt in Wien heute, für deutsche Städte undenkbar, eine artikulierte jüdisch-orthodoxe Gemeinde im zweiten Bezirk und es existiert, wenn auch erst auf den zweiten Blick erkennbar, eine Art Chinatown im fünften Bezirk. Ebenfalls in Deutschland undenkbar, gibt es in Österreich auch sechs gesetzlich anerkannte »Volksgruppen«, darunter die »Burgenland-Kroaten«, Sinti und Roma sowie die »Wiener Tschechen« und die »Wiener Slowaken«.
Wien ist also de facto seit Jahrhunderten eine der kosmopolitischsten Städte Europas. Man könnte sogar sagen: Migration prägt hier nicht die Stadt. Migration ist die Stadt. Oder anders ausgedrückt: Wien ist eine postmigrantische Stadtgesellschaft par excellence. Dies bedeutet natürlich nicht, dass das alle so sehen oder dass alle die gleichen Rechte haben. Unter dem Motto »Migrazija-yeah-yeah …« möchte das diesjährige Stadtfestival Wienwoche deshalb »Erste Hilfe« für jene leisten, »die sich mit Migration schwer tun«. Zum dritten Mal seit 2012 organisiert die freie Kulturszene der Stadt unter der Leitung von Petja Dimitrova, Can Gülcü und Radostina Patulova in der zweiten Septemberhälfte mit der Wienwoche eine Reihe von Ausstellungen, Film- und Theatervorführungen, Konzerten, Lesungen und Parties. Das wäre an sich nichts Besonderes, präsentiert sich Wien doch gerne als Kulturhauptstadt Europas.
Die jährliche Kulturförderung der Stadt beträgt immerhin etwa 230 Millionen Euro. Über 37 Millionen davon gingen 2013 an den Verband der großen Bühnen, darunter das Burgtheater. Und allein die Wiener Festwochen, ein weiteres Aushängeschild der Wiener »Hochkultur«, verfügen über einen Etat von fast elf Millionen Euro. Doch auch die Massenkulturveranstaltungen der beiden Großparteien, das Blasmusik- und Würschtelstand-lastige Stadtfest der ÖVP und das Donauinselfest der SPÖ, wurden bis vor kurzem mit jeweils fast einer Million Euro bezuschusst.
Um die Wienwoche jedoch gab es von Beginn an höchst kontroverse Diskussionen. Das Stadtfestival wurde 2011 von den Grünen als Initiative zur Förderung der freien Kulturszene und des Diversity-Mainstreaming in der ersten rot-grünen Stadtregierung gegen den Widerstand der ÖVP-Opposition durchgesetzt. Die sollte schließlich die Hälfte des bisherigen Etats für ihr Stadtfest, etwa 450 000 Euro jährlich, an die Wienwoche abtreten. Neben diesem Affront gegen die Tradition einer Kulturpolitik der parteigebundenen Besitzstandswahrung sind es allerdings vor allem die Uneindeutigkeit der Veranstaltungsformate, der queere Zugang und das interventionistisch-linke Selbstverständnis der Wienwoche, die der konservativen und rechten Öffentlichkeit so zu schaffen machen.
So rief die Arbeitsgruppe WahlweXel anlässlich der Nationalratswahlen vergangenes Jahr österreichische Staatsangehörige dazu auf, ihren Stimmzettel Menschen zu überlassen, die von den Wahlen ausgeschlossen sind. An der Aktion nahmen mehrere hundert Leute teil, so dass sich die FPÖ aufgefordert fühlte, eine Klage wegen Bruchs des Wahlrechts einzureichen. Dieses Jahr richtet das Projekt »(How I learned to stop worrying and) Love Migration« den Blick auf binationale Partnerschaften, transnationale Familien und sogenannte Schutzehen. Gefeiert wird die Liebe in der Migration mit einem »Hochzeitsbankett« und einem »Love Migration Speeddating« im Augarten.
Überhaupt lässt es die Wienwoche gerne krachen und eröffnete das diesjährige Festival mit einem opulenten Wiener Kopulationsring-Ball (WKR) in der Hofburg. Die Abkürzung WKR spielt auf den Wiener Korporationsring an. Auch als Akademikerball bekannt, wurde der Korporationsring-Ball bislang jedes Jahr im Winter von der FPÖ sowie den der Partei nahestehenden reaktionären studentischen Verbindungen und Burschenschaften ausgerichtet – ebenfalls in der Hofburg. Das Eröffnungsfest der Wienwoche verstand sich deshalb nicht nur als »queere Antwort« auf den männerbündlerischen Akademikerball, sondern auch als Teil der wachsenden Proteste gegen dieses alljährliche Zusammentreffen europäischer Rechtsextremer mitten im Zentrum der Stadt.
Einigen hat die Wienwoche allerdings offenbar zu viel Sex. Sie beklagen, dass hier Steuergelder für Gruppen wie die »perverse Initiative« und eigenwillige Kulturschaffende verschleudert würden. So heißt es in der Kronen-Zeitung vom 30. August, jedes der 16 Projekte mit »ziemlich unbekannten Künstlern« koste »die Steuerzahler im Schnitt 28 312 Euro«. Was wen was kostet, greifen Projekte wie »Gaygusuz gegen Österreich. Oder von der Nützlichkeit der ›Gast‹-arbeiter_innen« auf. In der szenischen Lesung erzählen Betriebsräte, Anwälte und Arbeiterinnen ihre Geschichte migrantischer Kämpfe etwa um die sogenannte Notstandshilfe, die mit der früheren deutschen Arbeitslosenhilfe vergleichbar ist. Ilker Ataç, der das Projekt gemeinsam mit Gin Müller leitete, sieht darin auch einen Eigentums­konflikt: »Der österreichische Staat eignete sich einen Teil des Eigentums der Gastarbeiter an, indem er sie in die Sozialkassen einzahlen ließ, ihnen aber oft nicht das Recht auf den Erhalt von Sozialleistungen gewährte.« Die Initiative »moving museum« schließlich versucht in Zusammenarbeit mit drei Wiener Museen und durch öffentliche Aktionen, in denen etwa Ausstellungstexte umgeschrieben und -objekte verschoben oder umgestellt werden, die vergessene Geschichte der Migrationen in museale Narrative einzuschreiben.
Ina Weber von der Wiener Zeitung geht das alles zu weit. Die Wienwoche, schreibt sie in einem Kommentar vom 28. August, sei etwas für »Fortgeschrittene und nicht für die Masse«. Den Etat von 450 000 Euro würde Frau Weber statt für Liebesfeste, Kopulationsparties, türkische Betriebsräte und anders hingestellte Artefakte lieber für eine Lösung ihres Problems verwenden, nämlich dass sie sich in ihrem eigenen Land ausgeschlossen fühle, wenn sie »an einer Gruppe von Menschen vorbeigeht, die eine fremde Sprache sprechen«.
Dafür fühlen sich Dimitrova, Gülcü und Patulova nicht zuständig. Das Leitungsteam der Wienwoche sieht sich weder als Troubleshooter für die mi­grationspolitischen Probleme Österreichs noch als Therapeuten für xenophobe Ängste. Patu­lova verwehrt sich zudem dagegen, mit der Wienwoche migrantische »Nischenkulturen« zu repräsentieren. Für Gülcü liegt das Problem mit der Migration bei der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Die Leute seien irritiert, »weil auf einmal drei Migrierte selbst sprechen, und das noch ausgestattet mit öffentlichem Geld für den Kulturbereich. Viele denken, wir müssten deshalb von der Kopftuchdebatte bis hin zum Jihad zu allem eine Meinung haben. Fragen sie den Intendanten des Burgtheaters auch danach? Ich jedenfalls möchte nicht über den Heiligen Krieg sprechen, sondern über Kultur in Wien.«