Flucht vor der Heimat

Seit Viktor Orbán 2010 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, entwickelt sich die ungarische Gesellschaft stetig zu einer autoritären, in der demokratische Institutionen, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen zurückgedrängt und Künstler, Andersdenkende sowie kritische Medien eingeschüchtert und bekämpft werden. Die ungarische Regierung führt eine Schwarze Liste aller Organisationen, die Menschenrechte, demokratische Werte und individuelle Freiheiten verteidigen. Weit oben auf dieser Liste stehen Árpád Schilling und sein Theaterensemble Krétakör (Kreidekreis). Schilling wurde 1974 im ungarischen Cegléd geboren, fing mit 17 Jahren an, als Schauspieler zu arbeiten und bald darauf auch als Regisseur, 2000 schloss er sein Regiestudium ab. Bereits 1995 gründete er das Ensemble Krétakör, mit dem er bis 2008 zahlreiche innovative, preisgekrönte Inszenierungen erarbeitete. Krétakör wurde ein wichtiger Bestandteil europäischer Theaterfestivals, etwa desjenigen in Avignon, der Wiener Festwochen und des Edinburgh International Festival. Derzeit inszeniert Schilling die Oper »Die Sache Makropulos« von Leoš Janáček an der Bayerischen Staatsoper.
Doch Schillings Ensemble wurde die staatliche Förderung entzogen, unter anderem weil es sich von einem norwegischen Fonds unterstützen ließ. Die ungarische Regierung will durch Entzug jeder staatlichen Unterstützung abweichende Einstellungen unterbinden. In dem Stück »A Párt – Die Partei – The Party«, das beim österreichischen Festival »Steirischer Herbst« in Bad Gleichenberg seine deutschsprachige Erstaufführung erleben soll, rechnet Schilling mit einem Parteiapparat, der nur zum Machterhalt dient, und seiner Heimat ab. Anfang 2013 stellte er fest: Noch nie hätten in so kurzer Zeit so viele Karrieristen Erfolg gehabt wie seit Beginn des Systems Orbán. Allerdings hätten Bereicherung auf Kosten anderer, Diebstahl gemeinsamen Eigentums und Schulden zu Lasten zukünftiger Generationen für ungarische Bürger noch nie ein moralisches Dilemma dargestellt. »Heute in Ungarn zu leben und zu arbeiten, ist schmerzvoll und beschämend zugleich«, schrieb der Regisseur der Wiener Zeitung Standard, »ich wäre gerne stolz auf meine Heimat, aber ich fliehe lieber vor ihr.« Extra Hungariam non est vita, wird den Ungarinnen und Ungarn eingeredet. Doch es gibt ein Leben außerhalb Ungarns. Schilling übersiedelt nun nach Deutschland.