Die Wirkungsgeschichte von Joachim Fests Hitler-Biographie

Inhumanität und Diskretion

Zur Wirkungsgeschichte von Joachim Fests Hitler-Biographie.

Schon bald nach ihrem Erscheinen im Jahre 1973 fand die Hitler-Biographie von Joachim C. Fest große Anerkennung bei Historikern. Andreas Hillgruber sprach von einem »für lange Zeit gültigen Standardwerk« und Max Braubach von einem »großen Wurf«, Klaus Hildebrand erblickte darin »ein Stück großer Geschichtsschreibung«, Theodor Schieder musste trotz mancher Bedenken »neidlos zugeben, dass hier große Historie geschrieben wurde«, und Karl Dietrich Bracher gelangte zu dem Urteil: »Es ist ein großes, ein ebenso lesbares wie lesenswertes Buch, eine Summe der Hitler-Forschung und zugleich der Deutung des Nationalsozialismus.« (1) Auch aus der angloamerikanischen Fachjournalistik waren beifällige Stimmen vernehmbar. Es handele sich, so hieß es, um ein »in vieler Hinsicht brillantes Buch« (History), um »eine exzellente Ergänzung« der Studie von Alan Bullock (Canadian Historical Review) und nicht zuletzt um ein Werk, das »zweifellos alles überrage«, was in den vergangenen Jahren über Hitler veröffentlicht worden sei (The American Historical Review). (2)
In den folgenden Jahren wurden diese Befunde trotz punktueller Kritik und mancher grundsätzlichen Einwände mehrmals bekräftigt. Der Verfasser einer Monographie über die Hitler geltende Forschung äußerte sich 1984 mit gewissen Einschränkungen voller Wohlwollen über Fest: »Glänzend arbeitet er die Psyche Hitlers heraus, beneidenswert seine Schilderung der Atmosphäre, in der sich Hitlers Leben entfaltete. Dabei dominieren freilich politische, kulturgeschichtlich oder ideengeschichtliche Fragestellungen und Deutungsbezüge. Das sozialgeschichtliche Element wird hingegen – weitgehend – vernachlässigt.« Und dennoch habe Fest »eine bisher nicht übertroffene Biographie Hitlers« vorgelegt. (3) Von Fests Verleger Wolf Jobst Siedler stammt die 1986 gezogene Bilanz, wonach Fest »das bedeutendste Buch seiner Generation über den großen Ruinierer geschrieben« habe. Im Historikerstreit der Jahre 1987 ff. polemisierte Hans-Ulrich Wehler gegen Fest und würdigte ihn gleichwohl als den »Autor der derzeit besten Hitler-Biographie«, und zehn Jahre danach stellte Ernst Nolte fest, diese Biographie sei »bis heute unübertroffen«. (4)
Ihren bleibenden Wert hatte Ian Kershaw 1988 skeptischer beurteilt: »Fest behandelt in seinem Werk verschiedene Themen unausgewogen, widmet zum Beispiel Hitlers jungen Jahren eine übertriebene Aufmerksamkeit; er sieht über sozioökonomische Probleme hinweg oder spielt ihre Bedeutung herunter; er befasst sich allzuviel mit der historisch nutzlosen Frage, ob man Hitler Eigenschaften einer ›negativen Größe‹ zuschreiben könne; und dort, wo er Hitler zur breiteren Entwicklung der deutschen Gesellschaft in Bezug setzt, zeigt er allgemein eine weit weniger sichere Hand als dort, wo er sich mit dessen Persönlichkeit befasst.« (5) In seiner das Werk eröffnenden Betrachtung über »Hitler und die historische Größe« – »Die bekannte Geschichte verzeichnet keine Erscheinung wie ihn; soll man ihn ›groß‹ nennen?« – war Fest auf den Kontrast zwischen Hitlers ungeheurer Machtfülle einerseits und den »unverkennbar ordinären Eigenschaften« eingegangen, die »ein Element abstoßender Gewöhnlichkeit ins Bild« gebracht hätten. (6) Diese Ausführungen erschienen auch dem Rezensenten Rudolf Augstein »ein wenig breit« geraten. (7)
Andere Kritiker nahmen bereits an dem Vorsatz Anstoß, Hitlers Lebenslauf in eine erzählende Form zu fassen und daraus neue Einsichten in den Nationalsozialismus zu gewinnen. Mit deutlichem Missvergnügen an dem Erfolg von Fests Buch verwies der Publizist Hermann Glaser damals auf dessen scheinbar abgelebtes Genre: »Die Zeit der Biographien sollte eigentlich zu Ende sein – es sei denn, man beurteilt die Reprivatisierung der Geschichtsschreibung als positive Erscheinung.« (8) Demgegenüber beharrte wiederum Wolf Jobst Siedler im nachhinein darauf, dass Fest »der Diskussion um zwei Jahrzehnte voraus« gewesen sei: »Mit jedem Jahr, das vergeht, wird deutlicher, wie hochmodern das Buch war, das sich der scheinbar abgetanen Form der Lebensbeschreibung bediente, die durch ihn ihre Renaissance erfuhr.« (9)
Unwidersprochen blieb dabei der mehrmals vorgetragene Tadel, dass die Gewichtung nicht stimme: Während Hitlers Jugendjahre und seine Zug um Zug erfolgte Machtentfaltung bis zum Angriff auf Polen zwei Drittel des Buches beanspruchen, nimmt das Kriegsgeschehen verhältnismäßig wenig Raum ein, und es ist erheblich mehr über Hitlers banausischen Musikgeschmack zu erfahren als beispielsweise über die Aushungerung Leningrads. Kritik entzündete sich auch an Formulierungen wie der, dass Hitler nach dem Putschversuch von 1923 zu einem »Mann der strikten Ordnung« geworden sei: »Das ist eine seltsame Bezeichnung für den Chef einer terroristischen Straßenkampfarmee«, bemerkte der Historiker Hermann Graml. (10)
Ein anderer Historiker, Heinrich Schwendemann, versuchte sich 2007 an einem abgeklärten Rückblick auf Fests Leistung: »Heute kann seine Hitler-Biographie als ein Dokument der Wissenschaftsgeschichte gelesen werden, das einen Großteil der in den sechziger und siebziger Jahren verbreiteten Klischees über den Nationalsozialismus zu einer konsensfähigen Erzählung zusammenfasste und sie autorisierte.« (11) Zu diesem ungünstigen Fazit könnte allerdings auch Fests offen bekundete Abneigung gegen Schwendemann beigetragen haben. Dieser sei, so hatte Fest 2005 geschrieben, »ein erfolglos in die Jahre gekommener Historiker«, der sich mit der Behauptung auffällig gemacht habe, »er werde endlich Speers Lebens­lüge aufdecken. Doch aufgedeckt hat er bislang nicht viel mehr als seine eifernde Geltungssucht.« (12) Auch solche Angriffe und Gegenangriffe gehören zum Gesamtbild der Kontroverse.
Den weitaus schärfsten Widerspruch rief Fest jedoch mit seiner Wendung gegen die vor allem von dem Marxisten Eberhard Czichon vertretene Auffassung hervor, dass eine »Nazi-Gruppe« aus Industriellen, Bankiers und Großagrariern Adolf Hitler als ihrem »mühselig hochgespielten und teuer bezahlten Kandidaten« zur Macht verholfen habe. (13) Fest hatte die Auseinandersetzung damit zum Teil in den Anmerkungsapparat verbannt, was die Gereiztheit seiner Gegner noch verstärkt haben mag. Diese »ideologisch vorgefassten Deutungen«, schrieb er, würden »die befehdete These, dass Männer Geschichte machen, nur umkehren und auf ›die Kapitalisten‹ zuschneiden. Auch dabei handelt es sich um negative Huldigungsliteratur mit verdecktem apologetischem Motiv.« (14) Andere Parteien hätten von der Großindustrie viel höhere Zuwendungen erhalten, und auch für die ungeheuren Stimmengewinne der NSDAP ergebe sich aus den marxistischen Analysen keine Erklärung. Czichon, so fuhr Fest wieder aufreizend beiseitegesprochen in den Fußnoten fort, »verwendet im übrigen mit Vorliebe Generalverweise sowie unpublizierte Akten, so dass seine Quellen vielfach kaum überprüfbar sind; häufig finden sich auch offenbar bewusste Täuschungen, Ungenauigkeiten, Fehlverweise«. (15) Und in der Tat erweist eine Nachprüfung der von Fest im einzelnen aufgelisteten Mängel, dass Czichon Fälschungen ­begangen hat.
Ohne sich um eine Widerlegung dieser Vorwürfe zu bemühen, charakterisierte der marxistische Historiker Reinhard Opitz Fests Hitler-Biographie 1978 als »ein Zeitdokument für den antidemokratischen und jederzeit zur Rechtfertigung von Faschismus aktualisierbaren Gehalt der heutigen bürgerlichen Sozialwissenschaften«. Fest betreibe eine »Verherrlichung der SS« und verfolge monströse politische Ziele: »Es geht ihm um die Förderung und Festigung eines aggressiv antikommunistischen und die Bundesrepublik wieder mehr in einer machtpolitischen Weltmission bejahenden öffentlichen Bewusstseins, das bei seiner Konfrontation mit dem einstigen deutschen Faschismus nicht mehr von schlechtem Gewissen befallen wird, weil es sich wieder mit Stolz zu ihm einem Stück großer deutscher Geschichte bekennt.« (16) Auch in der linken Theoriezeitschrift Das Argument erschien eine Bewertung des Buchs als Instrument einer ­politischen Offensive gegen die Linke: »Ihm scheint offenbar eine große Verwendbarkeit als mögliche Waffe gegen die beginnende sozialwissenschaftliche Wendung der westdeutschen Geschichtsschreibung eingeräumt zu werden.« (17) Nach einer 1975 veröffentlichten Einschätzung des Marxisten Manfred Weißbecker stieß sich Joachim Fest jedoch gerade »an der Tatsache, dass der Einfluss der marxistisch-leninis­tischen Theorie auch hinsichtlich des wissenschaftlich wie politisch aktuellen Themas Faschismus ständig wächst, und er will den Eindruck erwecken, dass die Lehren des heldenhaften Kampfes der revolutionären Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten aus allen Schichten des werktätigen Volkes keine Aktualität mehr besäßen«. (18)
Man mag über Fests politischen Standort ebenso unnachgiebig streiten wie über die Frage, weshalb ungezählte Vertreter der revolu­tionären Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten aus allen Schichten des werktätigen Volkes zu den Nationalsozialisten übergelaufen waren, aber ein »Bekenntnis zum Faschismus« und eine »Verherrlichung der SS« wird man in Fests umstrittenem Werk nicht finden. Der Historiker Hannes Heer bescheinigte Fest 2005 sogar, er habe »Auschwitz als Krönung von Hitlers Revolution« gerühmt und ein Heldendenkmal errichtet: »Als historische Studie, so die Bilanz, ist Fests Biographie grandios gescheitert, aber sie ist in scharfer Wendung gegen eine vermeintlich linke, reglementierte Schuldkultur ein gelungener Beitrag zu Hitlers Rehabilitierung geworden. Hitler, lässt sich jetzt sagen, war so groß, dass man sich als Deutscher seiner nicht mehr nur zu schämen braucht.« Überdies habe Fest Hitler »zur einzig wirkenden, also auch alleinverantwortlichen Macht erklärt«. (19)
Indessen wurden die Mitverantwortlichen von Fest durchaus benannt: »Es ist noch heute eine bedrückende Erkenntnis, dass viele Beamte, Offiziere, Juristen aus dem nationalgesinnten Bürgertum, die sich, solange Argumente zählten, überaus reserviert verhalten hatten, ihr Misstrauen in dem Augenblick aufgaben, als das Regime sie die Wonnen nationaler Ergriffenheit spüren ließ.« (20) Auch die Selbstgleichschaltung vieler Intellektueller und die Kollaboration der Wehrmacht nehmen einen breiten Raum ein, während sich die Profiteure der »Arisierung« jüdischen Eigentums und der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik tatsächlich im Dunkeln verlieren – »die Interessengruppe, die Hitler die Tür zur Macht endgültig öffneten, lässt Fest in einem Zwielicht, in dem alle Konturen verschwimmen«, schrieb Hermann Graml und monierte, dass Fest kein Interesse für die Wirtschaftsgeschichte aufbringe. Es sei zwar »eine richtige und zur Korrektur kurzschlüssiger Komintern-Formeln nützliche Feststellung«, dass Industrielle und Ban­kiers die NSDAP erst spät und verhältnismäßig zögerlich unterstützt hätten. An diesem Punkt aber setzten »die Fragen zum Zusammenhang zwischen Faschismus und Wirtschafts- und Gesellschaftssystem erst eigentlich ein, und ganz unverzeihlich ist es, dass Fest mit seiner Methode verdrängt, welch großen Anteil bestimmte Wirtschaftskreise – und andere konservative Gruppen wie Armee und Kirchen – am Scheitern der Weimarer Republik und damit zumindest indirekt am Aufstieg des Nationalsozialismus hatten«. (21)
Dagegen argumentierte Ernst Nolte, dass Fest es »nicht nötig« habe, »die beliebte Frage nach der Schuld der Großindustriellen zu stellen, die aus dem einfachen Grunde eine lächerliche Frage ist, weil das gegenteilige Verhalten, nämlich die völlige Abschneidung einer großen und als ›bürgerlich‹ geltenden Partei von allen Geldzuwendungen, einfach unvorstellbar und systemwidrig wäre«. (22) Doch selbst wenn es lächerlich wäre, Hitlers Geldgeber schuldig zu sprechen, so bliebe es doch die Pflicht des Historikers, die Quellen der Parteispenden zu lokalisieren, die Nutznießer der nationalsozialistischen Wirtschaftsordnung namhaft zu machen und die militärisch-industrielle »Verschrottung« ganzer Völker anschaulich darzustellen. Und mit Hermann Graml wäre auch danach zu fragen, worin das »Bürgerliche« einer Partei bestanden habe, die eine Privatarmee marodierender Schläger und Meuchelmörder unterhielt.
Fataler für Fests Renommé und die öffentliche Wahrnehmung seines Hauptwerks waren die Einlassungen, mit denen Marcel Reich-Ra­nicki 1999 in seinen Memoiren hervortrat. Im September 1973 hatte er in der Villa des Verlegers Siedler an einem Empfang teilgenommen, bei dem Fests Buch vorgestellt wurde. Auch ­Albert Speer war anwesend, und er habe die aufgebahrte Neuerscheinung, wie Reich-Ranicki schrieb, »offensichtlich mit Genugtuung« angesehen: »Verschmitzt lächelnd blickte er auf das feierlich aufgebahrte Buch und sagte bedächtig und mit Nachdruck: ›Er wäre zufrieden gewesen, ihm hätte es gefallen.‹« Womit Adolf Hitler gemeint gewesen sei. »Bin ich vor Schreck erstarrt? Habe ich den Massenmörder, der hier respektvoll über seinen Führer scherzte, angeschrien und zur Ordnung gerufen? Nein, ich habe nichts getan, ich habe entsetzt geschwiegen.« (23) Fest hat dieser Version vehement widersprochen. Der »behauptete Skandal« sei »in den Einzelheiten wie im ganzen eine Erfindung«: »Weder mir noch dem Gastgeber oder einigen der befragten Beteiligten ist aufgefallen, dass Speers Anwesenheit bei irgend­einem Gast Anstoß erregt hat. Auch der erwähnte Journalist« – Marcel Reich-Ranicki – »hat in den folgenden 26 Jahren zeitweise enger Zusammenarbeit, bis zum Erscheinen seiner ›Erinnerungen‹, niemals auch nur eine Andeutung über seine Empörungsgefühle fallen lassen.« (24)
Aber auch unabhängig vom Verlauf jenes Empfangs ist die Frage berechtigt, inwieweit sich aus der Nahsicht auf das Führungspersonal des Regimes blinde Flecken ergeben haben. Die Nürnberger »Rassengesetze« kommen bei Fest überhaupt nicht vor, und der Aufbau des Systems der Konzentrationslager sowie die Praxis des Völkermords werden auf knapp zwei Seiten abgehandelt. Das gleiche Defizit beklagte 1977 die Neue Zürcher Zeitung anlässlich des Dokumentarfilms »Hitler – eine Karriere« von Joachim Fest und Christian Herrendoerfer: »Der Antisemitismus beispielsweise ist eine so zentrale Angelegenheit des Nazismus und ­Hitlers persönlich gewesen, dass man ihn nicht so abtun kann, wie es in diesem Film geschieht: mit ein paar dürren Phrasen, dazu einige Bilder von Kaftanjuden im Wien vor 1914, dem Judenboykott von 1933 und schließlich den Vernichtungslagern im Osten – alles in allem bloß einige Minuten in dem immerhin zweieinhalb Stunden lang dauernden Dokumentarstreifen. Da gibt es keinen Judenstern und keine Kristallnacht, kein Wort über die schleichende Entrechtung der Juden zwischen 1933 und 1938, nichts über die gesteuerten sadistischen Ausschreitungen beim Einmarsch der Deutschen in Wien im März 1938, kein Bild von einer Sportpalastveranstaltung unter dem Motto ›Die Juden sind unser Unglück‹. Wer aus Hitlers ›Karriere‹ in so drastischer Weise den Judenhass verdrängt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, er unterschlage oder minimalisiere etwas, das in den Mittelpunkt gehört.« (25)
Im Buch zitiert Fest den Zeugen einer Massen­erschießung und übergeht zugleich die Qualen der Deportation, die Zustände in den Judenghettos, den Ablauf der Selektionen, die von der SS ersonnenen Torturen, die Menschenversuche, die mörderischen Stehappelle, die Einzelheiten der Sklavenarbeit, die detaillierten Aussagen über den Vorgang der Vergasung und generell die Zeugnisse der überlebenden KZ-Häftlinge. Aber jeder einzelne von ihnen hat ein wirklichkeitsgetreueres Bild von Hitlers innerstem Wesen empfangen als die Paladine in der Reichskanzlei oder das Publikum der tönenden Wochenschauen. Die Biographie eines Politikers, der die Ausplünderung, Misshandlung, Verstümmelung und Ermordung von Millionen Menschen sowie eine großindustriell betriebene Leichenfledderei zu verantworten hat, wäre ohne die Perspektive seiner Opfer unvollständig. Möglicherweise ist Fest darüber aus einer Scham hinweggegangen, die es ihm geboten erscheinen ließ, das Obszöne der Greueltaten nicht ungebührlich zu entblößen. Doch Diskretion ist keine geschichtswissenschaftliche Tugend. Gerade in den krudesten Grausamkeiten der SS gibt Hitlers Charakter sich zu erkennen. »Ich erinnere mich an die kleine Dagmar«, sagte eine Zeugin im Frankfurter Auschwitz-Prozess. »Sie kam in Auschwitz auf die Welt, und ich habe bei der Geburt geholfen. Sie ist gestorben, nachdem Mengele ihr Einspritzungen in die Augen gegeben hatte, weil er versuchen wollte, eine Änderung der Augenfarbe herbeizuführen. Die kleine Dagmar sollte blaue Augen bekommen.« (26) Und auch die namen­losen Opfer ereilte ihr von Hitler diktiertes Schicksal. Eugen Kogon, der im KZ Buchenwald eingesessen hatte, berichtet in seiner Studie über den »SS-Staat«, was einem Häftling 1938 nach einem gescheiterten Fluchtversuch widerfuhr: Der Kommandant Koch habe diesen Mann in eine Holzkiste sperren lassen, »deren offene Seite mit Stacheldraht bedeckt wurde. Der eingefangene Flüchtling konnte nur zusammengekrümmt sitzen. Dann ließ Koch von außen lange Nägel in die Wände treiben, die bei der geringsten Bewegung dem Opfer in das Fleisch eindrangen. In diesem Käfig wurde der Mann, ein Landarbeiter, vor dem stehenden Lager zur Schau gestellt. Er erhielt nichts zu essen und blieb zwei Tage und drei Nächte auf dem Appellplatz. Sein entsetzliches Schreien hatte nichts Menschliches mehr an sich. Am Morgen des dritten Tages wurde er endlich durch eine Giftinjektion von seinem Jammer erlöst.« (27)
Was hätte dagegen gesprochen, solche Augenzeugenberichte nicht summarisch abzuhandeln, sondern sie in großer Zahl in eine Hitler-Biographie aufzunehmen? Wer sich für Hitler interessiert, der lernt ihn dort am genauesten kennen, wo die straff von ihm gehaltenen Befehlsketten endeten und zum Tode führten.

Anmerkungen
(1) Andreas Hillgruber: Buchbesprechungen. In: »Historische Zeitschrift« 219 (1974), S. 161–165, hier S. 161; Max Braubach: Vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Bericht über Veröffentlichungen der Jahre 1971–1974. In: »Historisches Jahrbuch« 94 (1974), S. 247–332, hier S. 268; Klaus Hildebrand: Zwischen Mythos und Moderne: Hitler in seiner Zeit. In: »Das historisch-politische Buch« 22 (1974), S. 33–37, hier S. 33; Theodor Schieder: Hitler vor dem Gericht der Weltgeschichte. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 27. Oktober 1973, Beilage »Bilder und Zeiten«, S. 3; Karl Dietrich Bracher: Hitler – die deutsche Revolution. Zu Joachim Fests Interpretation eines Phänomens. In: »Die Zeit« 42/1973, http://www.zeit.de/1973/ 42/hitler-die-deutsche-revolution
(2) Jeremy Noakes: Reviews and Short Notices. In: »History« 61 (1976), S. 142 f., hier S. 143; John S. Conway: Reviews. In: »Canadian Historical Review« 57 (1976), S. 367–369, hier S. 368; Hans W. Gatzke: Reviews of Books. In: »The American Historical Review« 80 (1975), S. 1001 f., hier S. 1001
(3) Gerhard Schreiber: Hitler. Interpretationen 1923–1983. Ergebnisse, Methoden und Probleme der Forschung. Darmstadt 1984, S. 307
(4) Wolf Jobst Siedler: Vorwort. Über Joachim Fest. In: Karl Dietrich Bracher u. a.: Von Geschichte umgeben. Joachim Fest zum Sechzigsten. Berlin 1986, S. 9–12, hier S. 9; Hans-Ulrich Wehler: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum »Historikerstreit«. München 1988, S. 126; Ernst Nolte: Ideologische Konflikte und die Geschichtsschreibung im 20.Jahrhundert. In: ders., Der kausale Nexus. Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft. Studien, Artikel und Vorträge 1990–2000. München 2002, S. 48–70, hier S. 61
(5) Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick. Reinbek 1988, S. 128 f.
(6) Joachim C. Fest: Hitler. Berlin und Frankfurt am Main 1995, S. 17, 20
(7) Rudolf Augstein: Hitler oder die Sucht nach Vernichtung der Welt. Anmerkungen zu Joachim C. Fests neuer Biographie »Hitler«. In: »Der Spiegel« 38/1973, S. 63–86, hier S. 84, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41897963.html
(8) Hermann Glaser: Joachim C. Fest: Hitler. Tagebuch einer Buchrezension. In: »Tribüne« 12 (1973), S. 5542–5548, hier S. 5548
(9) Wolf Jobst Siedler, a. a. O., S. 10
(10) Hermann Graml: Probleme einer Hitler-Biographie. Kritische Bemerkungen zu Joachim C. Fest. In: »Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte« 22 (1974), S. 76–92, hier S. 80
(11) Heinrich Schwendemann: Zwischen Abscheu und Faszination. Joachim C. Fests Hitler-Biographie als populäre Vergangenheitsbewältigung. In: 50 Klassiker der Zeitgeschichte. Hrsg. von Jürgen Danyel, Jan-Holger Kirsch und Martin Sabrow. Göttingen 2007, S. 128
(12) Joachim Fest: Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und 1981. Reinbek 2005, S. 12
(13) Eberhard Czichon: Wer verhalf Hitler zur Macht? Zum Anteil der deutschen Industrie an der Zerstörung der Weimarer Republik. Köln 1967, S. 32
(14) Joachim C. Fest: Hitler, a. a. O., S. 1046, Anmerkung 13
(15) Ebd., S. 1085, Anmerkung 84
(16) Reinhard Opitz: Joachim C. Fests Rehabilitation des Faschismus. In: »Marxistische Blätter« 1/1978, S. 76–86, hier S. 79, 84 f.
(17) Michael-Viktor Graf Westarp: Geschichte. In: »Das Argument« 16 (1974), S. 727 f., hier S. 728
(18) Manfred Weissbecker: Entteufelung der braunen Barbarei. Zu einigen neueren Tendenzen in der Geschichtsschreibung der BRD über Faschismus und faschistische Führer. Frankfurt/Main 1975, S. 72
(19) Hannes Heer: »Hitler war’s«. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Berlin 2005, S. 44, 46 f., 118
(20) Joachim C. Fest, a. a. O., S. 557
(21) Hermann Graml, a. a. O., S. 83, 90
(22) Ernst Nolte: Joachim Fest und die Objektivität der Geschichtsschreibung. In: Karl Dietrich Bracher u. a.: Von Geschichte umgeben. Joachim Fest zum Sechzigsten. Berlin 1986, S. 201–213, hier S. 208
(23) Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart 1999, S. 482. Eine unkommentierte Wiedergabe dieser Version findet sich bei Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung. Göttingen 2004, S. 594
(24) Joachim Fest: Die unbeantwortbaren Fragen, a. a. O., S. 170
(25) »Neue Zürcher Zeitung«, 25. August 1977, zitiert nach: Was verschweigt Fest? Analysen und Dokumente zum Hitler-Film von J. C. Fest. Hrsg. von Jörg Berlin, Dierk Joachim, Bernhard Keller und Volker Ullrich. Köln 1978, S. 151
(26) Zitiert nach Hermann Langbein: Der Auschwitz-Prozess. Eine Dokumentation. 2. Wien 1965, S. 580
(27) Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München 1974 (Neuausgabe), S. 111 f.