Der Islamische Staat in Jordanien

Alarm in Amman

Vom Vormarsch des »Islamischen Staats« ist auch Jordanien bedroht. Hilfe sucht das Königshaus offenbar selbst bei konkurrierenden Jihadisten.

Nach den ersten Luftschlägen gegen den »Islamischen Staat« (IS) in Syrien war der jordanische König Abdallah auf einer Basis seiner Luftwaffe zu Gast. Der Monarch lobte die an den Angriffen der amerikanisch-arabischen Koalition beteiligten Piloten für ihren Einsatz. Wenige Tage zuvor hatte Abdallah in New York bei seiner Rede vor den Vereinten Nationen zu einer Zero-Tolerance-Politik gegenüber islamistischen Terrorgruppen aufgerufen, der Kampf gegen militante Jihadisten sei »der wichtigste Kampf unserer Zeit«.
Diese Aussage mag auch aus der Einschätzung der eigenen Sicherheitslage herrühren. Außer dem Irak und Syrien fühlt sich derzeit wohl kein anderes arabisches Land von den rasanten Landgewinnen der Jihadisten des IS so bedroht wie Jordanien. Zwar betonte König Abdallah während seiner USA-Reise in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CBS die Sicherheit der jordanischen Landesgrenzen, doch nur wenige Monate zuvor schien diese Sicherheit alles andere als ungefährdet. Mitte Juni war die Regierung in Amman alarmiert, als sich die irakische Armee von der jordanisch-irakischen Grenze zurückzog. In der von sunnitischen Stämmen besiedelten irakischen Provinz al-Anbar nahe der jordanischen Grenze kontrolliert der IS nunmehr schon seit Wochen die wichtigsten Straßen und Verkehrsknotenpunkte. Die weiter nördlich gelegene Grenze zwischen dem Irak und Syrien erstreckt sich mitten durch das Haupteinflussgebiet des IS und existiert bereits seit Juni nur noch auf dem Papier.
Jordanien verstärkte als Reaktion auf den irakischen Rückzug seine eigenen Grenztruppen. Diplomaten des Königshauses waren bemüht, die Bedrohung Jordaniens durch den IS herunterzuspielen, doch innenpolitisch unternahm das Königshaus Schritte, um dem wachsenden Einfluss des IS entgegenzutreten. Dabei scheint die jordanische Regierung zwei Strategien zu verfolgen. Einerseits ließen die jordanischen Behörden in den vergangenen Wochen rund 50 Menschen verhaften, die der Nähe zum IS verdächtigt wurden. Andererseits scheint der Sicherheitsapparat darauf zu setzen, Islamisten, die nicht als Bedrohung wahrgenommen werden, gegen die Jihadisten des IS in Position zu bringen.

So entließen die jordanischen Behörden im Juni den Salafistenführer Assem Barqawi aus der Haft. Er war fünf Jahre zuvor wegen Gefährdung der staatlichen Sicherheit und Rekrutierung zum Jihad in Afghanistan zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Barqawi gilt als Unterstützer der mit al-Qaida alliierten al-Nusra-Front und genießt unter Jordaniens Islamisten beträchtliche Popularität. Doch nach Einschätzung des jordanischen Sicherheitsapparats ist er ein Gegner des IS und dessen staatsübergreifenden Kalifats-Ansprüchen.
Ein anderer Fall ist der von Mohammed al-Zahiri, der in islamistischen Kreisen Jordaniens als »al-Qaidas Poet« bekannt wurde. In seinen Gedichten preist er die militärischen Erfolge der al-Nus­ra-Front. Doch auch er gilt als Gegner des IS und kritisierte in Online-Posts die Verfolgung von anderen Muslimen, Christen und Yeziden durch die Jihadisten. Ende Juli wurde al-Zahiri wegen der »Verbreitung terroristischer Propaganda« verhaftet, doch bereits Anfang September wieder auf Bewährung aus der Haft entlassen. In seinen Online-Posts forderte er jene Freiwilligen, die sich dem IS angeschlossen haben, dazu auf, die Gruppe zu verlassen und sich der al-Nusra-Front anzuschließen.
Nach Aussagen jordanischer Salafistenführer kämpfen derzeit rund 1 800 Jordanier an der Seite des IS im Irak und in Syrien. Die Zahl einheimischer militanter Sympathisanten des IS liege bei ungefähr 2 000, vermutet Hassan Abu Hanya, ein Experte für jihadistische Bewegungen in Jordanien, im Gespräch mit al-Jazeera. Er weist zudem darauf hin, dass nicht die Zahl der Kämpfer entscheidend sei, sondern deren Motivation, Organisationsgrad und Ausrüstung. »Wenn 4 000 IS-Kämpfer die zweitgrößte irakische Stadt Mossul einnehmen konnten, kann man sich vorstellen, welch eine Gefahr von dieser Zahl an potentiellen Kämpfern auch für Jordanien ausgehen kann«, sagte Abu Hanya.

Bereits im Juni gab es erste Solidaritätsbekundungen für den IS in Jordanien. In der mehrheitlich von Beduinen bewohnten Wüstenstadt Ma’an im Süden des Landes protestierten Menschen gegen König Abdallah – und hissten dabei die schwarze Fahne des IS. Ein wesentlicher Grund für Angehörige der traditionell königstreuen Stämme im Süden des Landes, gegen den Monarchen auf die Straße zu gehen, ist die wachsende wirtschaftliche Unzufriedenheit. In einer Umfrage der University of Jordan (UJ) befanden 72 Prozent der 1 800 Befragten nicht die Bedrohung durch den IS als größte Herausforderung für das Land, sondern die wirtschaftliche Situation. Nur 62 Prozent der Befragten betrachteten den IS als Terrororganisation – was vermuten lässt, dass ein beträchtlicher Teil der jordanischen Bevölkerung ein gewisses Maß an Sympathie für den IS hegt. Die Sympathie für die Jihadisten dürfte vor allem unter der konservativen Beduinenbevölkerung im Süden des Landes und in den Armenvierteln der Städte überdurchschnittlich groß sein.
Gerade in den Armenvierteln der Großstädte ist der Zustrom syrischer Flüchtlinge am stärksten spürbar. Anfangs versuchte die jordanische Regierung, die vor dem Bürgerkrieg geflohenen Syrerinnen und Syrer in Flüchtlingscamps nahe der Grenze zu konzentrieren, doch die von den Vereinten Nationen unterhaltenen Zeltstädte bieten keinerlei Arbeitschancen und Perspektiven. So verkaufen viele Flüchtlinge ihr Zelt weit unter dem eigentlichen Wert an jordanische Beduinen und ziehen in die Großstädte weiter. Doch auch dort sinkt mittlerweile die Toleranz gegenüber den Geflohenen. Der Meinungsumfrage der UJ zufolge befürworten nur noch 19 Prozent der Befragten eine weitere Aufnahme syrischer Flüchtlinge, 79 Prozent sind dagegen.
Die meisten Schätzungen gehen derzeit von einer Million syrischer Flüchtlinge im sechs Millionen Einwohner zählenden Jordanien aus. In seinem Interview mit CBS bemühte sich König Abdallah diese Situation dem US-Publikum nahe zu bringen: »Versuchen Sie einmal, sich 60 Milli­onen Flüchtlinge in den USA vorzustellen.« Mit einer Million Menschen habe Jordanien das absolute Limit bei der Aufnahme von Flüchtlingen erreicht; schon jetzt sei die Situation ohne Hilfe von außen kaum mehr zu bewältigen, so König Abdallah.

Die prekäre Situation in den Flüchtlingslagern und den Armenvierteln der Städte wird auch in israelischen Sicherheitskreisen mit Sorge wahrgenommen. Die Stabilität Jordaniens und der Erhalt der dortigen Monarchie gilt in Israel als wichtiger außenpolitischer Faktor. Auf der repräsentativen Ebene ist der Austausch zwischen beiden Ländern zwar karg, doch die Sicherheitsdienste koordinieren sich regelmäßig miteinander.
Die Sorge vor einer Radikalisierung in den Flüchtlingslagern und den Armenvierteln der jordanischen Städte teilen die Geheimdienste beider Länder. So sagte der Direktor des israelischen Geheimdiensts Mossad, Tamir Pardo, vor einigen Wochen: »Einen militärischen Vorstoß von IS-Kämpfern nach Jordanien könnte das Land vermutlich abwehren, doch von der Anzahl an Flüchtlingen und möglichen IS-Sympathisanten in den Städten geht ein unkalkulierbares Risiko aus.«