»Chancen vor Gericht gering«

Die Bundesregierung reformiert derzeit das Sexualstrafrecht. Dass der Paragraph 177 des Strafgesetzbuchs, in dem der Tatbestand der Vergewaltigung erfasst ist, unangetastet bleiben soll, kritisiert »Terre des Femmes« scharf. Birte Rohles, Referentin für häusliche und sexualisierte Gewalt der Frauenrechtsorganisation, hat mit der Jungle World gesprochen.

Was bemängeln Sie am Paragraphen 177 StGB?
Wir fordern schon seit fast einem Jahr eine Reform des Paragraphen 177 StGB. Eine Reform ist notwendig, weil er extreme Lücken aufweist und viele Fälle von Vergewaltigungen deshalb nach dem deutschen Strafrecht nicht bestraft werden können. Darum fordern wir das Justizministerium auf, den Paragraphen zu überarbeiten.
Es gibt jährlich 8 000 Anzeigen wegen Vergewaltigung, aber nur 1 000 Verurteilungen. Ist die Diskrepanz dem Gesetz geschuldet?
Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum der Unterschied so groß ist. Ein Grund ist sicher, dass der Paragraph 177 nicht ausreichend ist. Das zeigt sich schon, wenn sich eine Frau nach einer Vergewaltigung an eine Beratungsstelle wendet, um mit einer Beraterin über ihren Fall zu reden. Dann ist es häufig so, dass schon die Beraterinnen den Frauen davon abraten, Anzeige zu erstatten, weil die Chancen vor Gericht gering sind.
Wie müsste ein angemessenes Gesetz aussehen?
Zurzeit muss eine von drei Voraussetzungen erfüllt sein, um den Tatbestand zu erfüllen: Der Täter muss körperliche Gewalt angewendet oder mit Gefahr für Leib oder Leben gedroht oder die Tat in einer Lage begangen haben, in der ihm das Opfer schutzlos ausgeliefert war. Ganz viele Fälle von Vergewaltigung entsprechen nicht haargenau einem dieser drei Kriterien. Deshalb wäre es wichtig, dass der Paragraph so formuliert wird, dass alle sexuellen Handlungen, die gegen das Einverständnis einer anderen Person begangen werden, bestraft werden. Gewalt und Drohungen sollten nicht mehr allein ausschlaggebend sein.
Ist das deutsche Gesetz ein Einzelfall in Europa?
Die Situation in Europa ist sehr unterschiedlich. In England, Irland und Wales sind die Gesetze schon in unserem Sinn formuliert. In den übrigen Ländern ist es ähnlich wie in Deutschland, wobei einige Regierungen dabei sind, die Gesetze zu ändern, weil die Istanbul-Konvention des Europarats es ihnen vorschreibt. Auch Deutschland hat die Konvention unterzeichnet und muss deswegen zügig den Paragraphen 177 ändern.