Die Debatte über die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr

Flott trotz Schrott

In den vergangenen Wochen erregte sich die Öffentlichkeit über die vermeintlich bedrohte Einsatzfähigkeit des deutschen Militärs. Gleichzeitig kommen immer mehr Konflikte ins Gespräch, bei denen die Bundeswehr eingesetzt werden soll.

Nördlich von Mazar-i-Sharif, Afghanistan, Freitag vergangener Woche, 22 Uhr Ortszeit: Sechs ISAF-Soldaten, darunter ein deutscher Bundeswehrsoldat, werden bei einem Flugunfall leicht verletzt. Ein Hubschrauber »kippt bei einer Landeübung aus noch ungeklärter Ursache um«, so die Bundeswehr. Die Soldaten müssen ins Lazarett gebracht werden. Dass es sich um einen Hubschrauber der dänischen Luftwaffe gehandelt hat, verrät die Bundeswehr nicht. So scheint sich die Meldung einzureihen in die endlose Folge von Nachrichten über die vermeintlich restlos heruntergekommene Ausrüstung des deutschen Militärs.

Los ging es, als am 24. September Einzelheiten aus einem Bundeswehrbericht mit dem Titel »Materielle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte« bekannt wurden. Das vertrauliche Dokument las sich wie die Inventarliste eines Hightech-Schrottplatzes: Von 109 Eurofightern seien nur 42 »verfügbar«, von 56 Transall-Transportern weniger als die Hälfte einsatzbereit. Nur 16 der 83 Transporthubschrauber des Typs »CH-53« könnten derzeit fliegen, ebenso nur 38 der 89 »Tornado«-Kampfjets. Dass das Verteidigungsministerium selbst die Zahl der einsatzfähigen Flugzeuge für die eigene Planung offenbar als genügend erachtet und die jeweilige Flottenstärke meist mit grünen Punkten  – gleichbedeutend mit »ausreichend« – markiert hatte, wurde den Militärplanern als Versuch ausgelegt, zu vertuschen, wie sehr sie die deutsche Wehrkraft bereits zersetzt haben.
Und so ging es weiter. Die Bundeswehr habe angeblich nur einen einsatzbereiten Hubschrauber vom Typ »Sea King« für zivile Seenotrettung in Nord- und Ostsee, meldete der NDR. Die Bundeswehr dementierte, tatsächlich seien es »drei bis vier«. Das ARD-Magazin Kontraste kolportierte, dass nächstes Jahr »über 7 000 ungeschützte Militärfahrzeuge aus dem Betrieb genommen werden«, was zu »zusätzlichen Engpässen im Ausbildungs- und Übungsbetrieb« führen werde. Der deutsche Beitrag zur Eingreiftruppe Nato Response Force ab Januar 2015 sei in Gefahr. Tatsächlich ist die Ausmusterung Teil des Reformkonzepts der Bundeswehr. Die war aus Rationalisierungsgründen zum »dynamischen Verfügbarkeitsmanagement« übergegangen. Bei diesem Modell bekommen die einzelnen Einheiten nur noch über ungefähr 30 Prozent des notwendigen militärischen Materials, das nur selten gebraucht wird. Der restliche Bestand muss jeweils zwischen den Einheiten ausgetauscht werden. Der SPD-Verteidigungspolitiker Rainer Arnold nannte dies nun einen »Irrweg«, das Bundesverteidigungsministerium wies dies zurück: »Der Ausbildungs- und Übungsbetrieb der Bundeswehr ist sicher­gestellt.«
Dann wurde bekannt, dass die Bundeswehr in den vergangenen Jahren deutlich weniger für Rüstungsgüter ausgegeben hat als geplant. Nach einer Aufstellung der Bundestagsfraktion der Grünen blieben zwischen 2009 und 2013 insgesamt 3,04 Milliarden Euro, die für Rüstungsmaterial veranschlagt waren, ungenutzt. Das Geld floss teilweise ans Finanzministerium zurück, teilweise wurde es für andere Zwecke wie für Überhangpersonal im Zuge der Bundeswehrreform eingesetzt. »Krasses Missmanagement«, urteilte der Grünen-Verteidigungspolitiker Tobias Lindner. Scheinbar wusste jeder besser als die Generäle selbst, wie viele Waffen diese brauchen. Nämlich mehr.
Die Erregung erreichte ihren Höhepunkt, als Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) Anfang Oktober ein Gutachten präsentierte, das sie einige Monate zuvor in Auftrag gegeben hatte. Die Unternehmensberatung KPMG hatte die neun größten Rüstungsprojekte der vergangenen Jahre untersucht und eine »schmerzhafte Diagnose« erstellt, so von der Leyen. Dem Gutachten zufolge wurden alle ­Waffensysteme mit zwischen zweieinhalb und neun Jahren Verspätung geliefert. Sieben Vor­haben wurden deutlich teurer als geplant, die Lieferungen waren oft mit Mängeln behaftet. Von »Horrormeldungen« (tagesschau.de) und »sträflicher Vernachlässigung« der Bundeswehr (General-Anzeiger) war zu lesen. Es darf getrost angenommen werden, dass das Ersatzteilmanagement von Rotorblättern nicht zufällig jetzt in Leitartikeln und Hauptnachrichten verhandelt wird. Denn seit Beginn dieses Jahres sind zwei grundlegende Debatten über die deutsche Verteidigungs- und Rüstungspolitik im Gang.

Die eine Frage lautet: Wie sehr soll der Staat die deutschen Rüstungskonzerne fördern? Vor der Bundestagswahl hatte der Parteivorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, angekündigt, Rüstungs­exporte deutlich restriktiver zu handhaben als Schwarz-Gelb. Nach der Wahl genehmigte er als Bundeswirtschaftsminister zwar Milliardenbürgschaften für Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien, hielt aber daran fest, eine »restriktive Exportpolitik« zu verfolgen. Die Union griff Gabriel dafür im Juli an. Der CSU-Parteivorsitzende Horst Seehofer warnte vor einem »extremen«, »faktischen Exportstopp« und »dramatischen Folgen«. Deutsche Rüstungsunternehmen könnten »vom Markt verschwinden oder ins Ausland abwandern«. CDU-Generalsekretär Peter Tauber sah die Bundeswehr schon »vollkommen abhängig von Rüstungsimporten aus Russland oder den USA«.
Nach den Berichten über den maroden Zustand der Bundeswehrausrüstung erklärte Verteidigungsministerin von der Leyen, die Beschaffung stärker internationalisieren zu wollen. Nur noch wenige, ausgewählte Industriesparten sollen als Schlüsseltechnologien gelten, die zwingend im Inland gekauft werden müssen: Sensorik und Vernetzungstechnik. Panzer, U-Boote und Handfeuerwaffen hingegen zählte von der Leyen nicht zu den »Kernfähigkeiten« – ein Affront ersten Ranges für die deutschen Waffenbauer. Selbst Gabriel ging das zu weit. Er habe Zweifel an der »sehr schmalen Festlegung« von der Leyens, vor allem U-Boote solle die Bundeswehr auch künftig nur bei deutschen Werften kaufen dürfen.

Die Waffenproduzenten versuchten zu retten, was zu retten ist. Nur in einem »engen Schulterschluss« zwischen Bundeswehr und der deutschen Rüstungsindustrie seien »bedarfsorientierte Lösungen zu erreichen«, sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), Georg Wilhelm Adamowitsch. Der »Beschaffungsprozess müsse überholt« und die »Bürokratie durchforstet« werden. Unter »Federführung der Bundeswehr« müsse »ein Neuanfang« gemacht werden, die Industrie könne dabei »ihre Expertise einbringen« – ganz so, als hätte jemand anderes mit jahrelanger Verspätung Murks geliefert und danach überhöhte Rechnungen geschickt.
Von der Leyen warf daraufhin im Bundestag die Frage auf, ob Deutschland die Stärke der einheimischen Rüstungsindustrie für seinen sicherheitspolitischen Einfluss in der Welt nutzen wolle. »Wenn das mit ›Ja‹ beantwortet wird, dann ist klar, der Bedarf der Bundeswehr reicht nicht aus für eine gesunde Industrie, sondern hier ist die Frage nach dem Export auch zu stellen.« Damit berührte sie die zweite Frage, die der Erregung über die Ausrüstungsmängel der Bundeswehr zugrunde liegt: die nach dem Ausmaß des deutschen Militärengagements in der Welt. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz Ende Januar hatte Bundespräsident Joachim Gauck gefordert, Deutschland solle sich »als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen«. Auf derselben Konferenz forderte von der Leyen mehr Gewicht Deutschlands in der Nato. »Gleichgültigkeit ist für ein Land wie Deutschland keine Option.«
Seitdem kommen ständig neue Konflikte ins Gespräch, in die sich die Bundeswehr einbringensoll. Die Bundesregierung offerierte der Organi­sation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine Beobachtungsmission der Bundeswehr in der Ostukraine »mit militärischer Komponente« und Drohneneinsatz. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) überlegte laut, den ­geplanten Ausbildungseinsatz »Resolute Support« in Afghanistan, an dem auch die Bundeswehr ­beteiligt sein soll, über 2016 hinaus zu verlängern. Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, verlangte einen Bundeswehreinsatz mit »robustem« UN-Mandat gegen die Jihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS), inklusive Bodentruppen. Ebola-Erkundungsteams des Deutschen Roten Kreuzes wurden nach Liberia geschickt und prüfen mit Unterstützung der Bundeswehr die Errichtung eines mobilen Krankenhauses. All dies geschah allein im Oktober.
So ätzte die Neue Züricher Zeitung, wichtiger, »als die Löcher in Eurofighter-Jets zu zählen, wäre die Debatte, ob die Bundeswehr wieder auf die Stufe robuster Entwicklungshilfe zurückfallen soll«. Die Bundeswehr habe trotz der technischen Probleme »stets ihre Auslandseinsätze bewältigt«, es gebe »keinen Hinweis, dass ausgerechnet jetzt die Einsatzfähigkeit durch die chronischen Gebrechen ernsthaft gefährdet ist«. Unklar sei hingegen, für welche Zwecke die Bundeswehr ihr teures Großgerät einsetzen soll. »Statt an möglichst vielen Orten ziemlich wenig zu tun, wäre es vermutlich sinnvoll, sich auf einige Einsätze zu konzentrieren.«