Alfredo Molano über den Friedensprozess in Kolumbien

»Die sozialen Konflikte und die Gewalt werden bleiben«

Am 24. Oktober soll die 30. Runde der Friedensgespräche zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (Farc) stattfinden. Seit November 2012 verhandeln Vertreter beider Seiten im kubanischen Havanna über ein Ende des Jahrzehnte währenden bewaffneten Konflikts. Eine Geschichtskommission, die von den Farc und der Regierung einberufen wurde, soll über die Ursachen des Konflikts aufklären. Eines der Mitglieder der Kommission ist Alfredo Molano. Der 70jährige ist Schriftsteller und Soziologe. Er hat zahlreiche Bücher über das Leben der Menschen auf dem Land und die Guerillagruppen in Kolumbien geschrieben. In der Tageszeitung El Espectador veröffentlicht er wöchentlich eine Kolumne. Mit ihm sprach die Jungle World über die Gründe des Konflikts in Kolumbien, die kolumbianische Linke und die Aussicht auf Frieden.

Warum braucht es im Rahmen des Friedensprozesses eine »Geschichtskommission über den Konflikt und dessen Opfer«?
Die Kommission soll über die verschiedenen Ursachen des bewaffneten Konflikts aufklären sowie die Gründe für seine lange Dauer. Dazu sind zwölf Forscher und zwei Berichterstatter ernannt worden, die seit vielen Jahren in diesem Bereich gearbeitet haben. Alle zwölf Akademiker fertigen zunächst eigene Analysen an, die dann zusammengeführt werden. Ziel ist es, Material für eine zukünftige Wahrheitskommission zusammenzutragen. Allerdings gibt es einen Unterschied zu früheren Wahrheitskommissionen, bei denen es letztlich um die Feststellung einer juristischen Schuld von Einzelpersonen ging. Wir wollen herausfinden, welche gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse Ursachen und Verlauf des Konflikts determiniert haben: politische Parteien, wirtschaftliche Prozesse, die jeweiligen Regierungen, einige Ministerien etc.
Eine vor einigen Jahren von der Regierung eingesetzte Kommission hatte den Beginn des bewaffneten Konflikts auf das Jahr 1958 datiert, das Jahr, in dem die kurze Militärdiktatur von Gustavo Rojas Pinilla endete.
Um den Ursachen auf den Grund zu gehen, muss man viel früher anfangen. Die als La Violencia (die Gewalt) bezeichneten Auseinandersetzungen beginnen offiziell 1948 mit der Ermordung des Liberalen Jorge Eliécer Gaitán. Aber wir wollen in den zwanziger Jahren beginnen, in denen sich das demographische und wirtschaftliche Gefüge Kolumbiens drastisch veränderte. Ziel ist es, dass die geschichtliche Wahrheit diesmal nicht von der Regierung geschrieben wird, die immer eine politisch bequeme Wahrheit ist.
Seit zwei Jahren verhandeln die Farc und die Regierung von Präsident Juan Manuel Santos über ein Ende des bewaffneten Konflikts. Sie haben Einigungen über eine Reform der Agrarpolitik, den Drogenhandel und die politische Teilhabe erzielt. So weit fortgeschritten war bisher keiner der vier Friedensprozesse mit den Farc.
Es stimmt, dass der aktuelle Friedensprozess sehr weit fortgeschritten ist. Wenngleich die Vereinbarungen von 1984 mit der Regierung von Präsident Belisario Betancur (1982 bis 1986) ja zur Gründung der Partei Unión Patriotica (UP) (politischer Arm der Farc, Anm. d. Red.) geführt hatten, die immerhin an Wahlen teilgenommen hat.
Die jetzigen Verhandlungen sind vielversprechend, weil beide Seiten ihren Zielen nicht näherkommen: Weder konnte das Militär die Guerilla besiegen, noch konnte die Guerilla die Regierung und die staatlichen Institutionen in Gefahr bringen.
Tausende Mitglieder der UP sind in den Jahren nach ihrer Gründung ermordet worden. Und auch sonst haben Kräfte inner- und außerhalb des Staats in den vergangenen Jahrzehnten linke Bewegungen unterdrückt und soziale Reformen erschwert oder verhindert. Warum sollte es dieses Mal anders sein?
Das Entscheidende wird sein, ob die Regierung in der Lage ist, das Militär vollständig zu kontrollieren, denn innerhalb der kolumbianischen Streitkräfte hat es immer schon eine Verbindung mit dem Paramilitarismus gegeben. Dass demobilisierte Guerilleros ermordet werden könnten, ist nicht völlig abwegig und deshalb wird es auch keine Zeremonie geben, bei der die Farc-Kommandanten die Gewehre abgeben, sondern es wird ein langer Prozess werden. Ein Prozess sich aufbauenden Vertrauens, bei dem beide Seiten ihren Willen und ihre Fähigkeit zeigen, die eigenen Reihen zu kontrollieren. Das heißt, die Guerilla muss ihre Einheiten in einem Demobilisierungsprozess ebenso kontrollieren wie die Regierung ihre Sicherheitskräfte mit Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen. Dieser Prozess setzt aber eine andere staatliche Struktur voraus, einen Staat, der bereit ist, eine linke Partei innerhalb seiner Institutionen zu beherbergen.
Verhandelt die Regierung auch deshalb mit den Farc, um Zugang zu wirtschaftlich attraktiven Regionen zu erhalten, in denen die Guerilla derzeit größere Investitionen verhindert?
Sehr vieles wird davon abhängen, wie gut sich die Kleinbauern, aber auch die Mittelschicht organisieren können, um die Durchsetzung einer solchen Politik zu verhindern. Zum Beispiel wird es dann nicht so einfach sein, dass die Freihandelsabkommen mit ihren verheerenden sozialen und ökologischen Folgen weiter funktionieren können wie bisher. Die Farc selbst haben eine sehr starke interne Struktur mit eigenen Organisationen, die auf lokaler Ebene Macht ausüben. Was die Farc intern vorschlagen, ist, dass es im Falle eines Friedensvertrags zwar eine Entwaffnung, aber keine Demobilisierung gibt. Das heißt, dass die Farc und ihre jeweiligen Organisationen auf lokaler Ebene weiter ihren politischen Einfluss behalten und so die Spielregeln der Investitionen in der jeweiligen Region mitbestimmen. Das gelingt aber nur, wenn diese Organisationen nach einem Friedensschluss nicht zerfallen, sondern weiter bestehen bleiben.
Was kann mit dem Friedensprozess gesellschaftlich erreicht werden und was nicht?
Sagen wir es so: Historisch betrachtet, wird er den bewaffneten Widerstand beenden, aber die sozialen Konflikte und die Gewalt werden bleiben, verursacht vor allem durch den Bergbau und die Interessen der Großgrundbesitzer. Letztere werden vielleicht etwas schwächer sein, sollte der Landbesitz in Folge der Verhandlungen tatsächlich gerechter verteilt werden.
In Kolumbien war seit der Unabhängigkeit nie eine linke Regierung an der Macht. Was würde ein Ende des bewaffneten Konfliktes für die Linke in Kolumbien bedeuten?
Es wird oft gesagt, dass die Linke in Kolumbien deshalb so schwach ist, weil hier noch immer die Guerillagruppen existieren und dies eine breitere politische Entwicklung hemmt. Das ist sicherlich richtig: Wenn die Menschen keine Angst mehr haben müssen, getötet zu werden, weil sie eine gewisse Partei unterstützen, könnten die linken Kräfte stärker werden. Aber die Existenz einer Guerilla führt auch dazu, dass die Regierungen davon abgehalten werden, mit einer gewissen Willkür vorzugehen. Diese militärische Stärke der Guerilla könnte von einer politischen Kraft kompensiert werden.
Das Verhältnis der Farc zu anderen sozialen Bewegungen ist auch deshalb angespannt, weil die Farc einen zuweilen stalinistisch anmutenden Führungsanspruch für sich erheben. Könnte das zu Problemen führen?
Die Geschichte der Farc ist stark mit der der Kommunistischen Partei Kolumbiens (PCC) verbunden. Wie alle kommunistischen Parteien zeichnet sich der PCC durch eine gewisse fehlende ideologische und politische Elastizität aus. Dies ist der Geschichte der Farc und des PCC geschuldet, aber auch der kriegsbedingten Organisationsstruktur selbst. In einer »Armee des Volkes«, als die sich die Farc ja bezeichnen, kann es keine Demokratie geben. Es gibt Vorgaben durch die Befehlshaber und basta. Dieses Modell kann Einfluss auf die politische Entwicklung haben. Aber man muss auch sagen, dass die parteilosen Linken in Kolumbien keine Diktatur des PCC oder einer zukünftigen Farc-Partei akzeptieren würden.
Dogmatismus kennen allerdings nicht nur die Farc und der PCC, sondern auch die Maoisten oder die pro-kubanischen Castristas. In vielen Ländern hat sich die Linke entzweit, wenn sie schwach ist, aber versucht, sich in Koalitionen zu vereinen, wenn sie stark ist. Koalitionen linker Gruppen ohne Notwendigkeit einer organischen Partei – das ist meine Hoffnung. Wir sind in Kolumbien nicht dazu verdammt, dass die Rechte uns auf Ewigkeit erdrückt.
Seit im Juni bekannt wurde, dass auch die zweitgrößte Guerilla, Ejército de Liberación Nacional (ELN), Gespräche über die Aufnahme von Friedensverhandlungen führt, ist es still um deren Fortgang geworden. Wissen Sie, woran es fehlen mag?
Nein. Ich habe allerdings den Eindruck, dass der ELN sich etwas überschätzt. Er stellt politische Forderungen, die nicht seiner tatsächlichen Stärke als Organisation entsprechen. Wenn wir nach Maos Credo gehen, dass die politische Macht aus den Gewehrläufen kommt, muss man fragen: Welche Forderungen kann der ELN mit gerade einmal rund 5 000 Kämpfern im Vergleich zu den Farc stellen, die mehr als die doppelte Anzahl unter Waffen haben?
Anführer der Farc und des ELN sollen sich zuletzt in Kuba getroffen haben. Könnte sich der ELN den Verhandlungen anschließen?
Das wäre aus meiner Sicht das Logischste, weil das Übergewicht der kolumbianischen Armee im Falle einer Demobilisierung der Farc zu groß wäre. Die Armee würde den ELN auslöschen. Ich gehe davon aus, dass Farc und ELN untereinander bereits vereinbart haben, dass der ELN unter dem Dach der derzeitigen Verhandlungen eigenständige Gespräche mit der Regierung aufnimmt. Allerdings mit anderen Schwerpunkten, denn während zum Beispiel die Frage des Landbesitzes für die Farc ein zentrales Thema ist, sind es für den ELN der Bergbau und dessen Folgen.