Die Große Koalition in Zeiten schlechter Wirtschaftsprognosen

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Angesichts schlechter Wirtschaftsprognosen stellen Politiker aus den Reihen der Union die Vereinbarungen des schwarz-roten Koalitionsvertrags in Frage.

Mindestlohn von 8,50 Euro, Rente mit 63 für Männer mit Mustererwerbsbiographie, Frauenquote von 30 Prozent für Aufsichtsräte – was die Große Koalition auf den Weg gebracht hat, begreifen viele links der gesellschaftlichen Mitte als halbherzig und nicht weit genug gehend. Für den konservativen Wirtschaftsflügel der Union sind diese Punkte trotzdem reines Teufelszeug. Die schlechten Wirtschaftsprognosen kommen da gerade recht, um die Realisierung dieser Projekte trotz klarer Beschlüsse in Frage zu stellen.

Die von der deutschen Regierung vorangetriebene EU-Politik mit den Dogmen vom Kürzen der Staatsausgaben und vom Schuldenabbau treibt andere Länder in den wirtschaftlichen Niedergang und deren Bürger in die Armut. Wie ein Bumerang treffen diese Folgen früher oder später die deutsche Ökonomie. Die Bundesrepublik lebt von Wirtschaftsexporten vor allem in andere europäische Länder. Brechen dort Nachfrage und Investitionen ein, hat das für Auto- und Maschinenbauer, die chemische Industrie, Nahrungsmittelhersteller und andere Produzenten Konsequenzen. Es dauert nur ein bisschen, bis sie sichtbar werden. Jetzt könnte es so weit sein.
Die Nachrichten aus der deutschen Wirtschaft klingen nicht gut. Der Dax ist erstmals seit einem Jahr unter 9 000 Punkte gesunken, die Wachstumsprognosen müssen nach unten korrigiert werden. »Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem außenwirtschaftlich schwierigen Fahrwasser«, stellte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) fest. Zwar gibt sich der Minister zuversichtlich, aber: »Die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land hat sich seit den Erwartungen im Frühjahr eingetrübt«, räumte Gabriel ein. Im Frühjahr ging die Bundesregierung noch von einem Wachstum von 1,8 Prozent aus, in ihrer gerade vorgelegten Herbstprognose sind es noch 1,2 Prozent. Für 2015 prognostiziert sie 1,3 Prozent statt zwei Prozent Wachstum.

Die Prognosen bilden die Basis für die Schätzung von Steuereinnahmen und sind deshalb die Grundlage für die Aufstellung der öffentlichen Haushalte. Zwar ist für viele Millionen Menschen unerheblich, ob die Wirtschaft wächst oder nicht, weil das an ihrer Armut nichts ändert. Auch die Zuverlässigkeit solcher Prognosen ist durchaus fragwürdig. Trotzdem sind sie politisch nicht nur mit Blick auf die öffentlichen Haushalte relevant, denn mit ihnen wird Stimmung gemacht. »Diese 36 Regierungspläne killen die Konjunktur«, titelte die Welt. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hat eine Liste mit all dem aufgestellt, was ihm am Koalitionsvertrag von SPD und Union nicht passt – von der Einführung eines Unternehmensstrafrechts über die Novellierung der Elektronikschrottverordnung bis zur geplanten Aufsplitterung der Elternzeit, der Frauenquote und der Begrenzung von Zeitarbeitsverträgen. Solche Vorhaben solle die Koalition fallen lassen, fordert der DIHK.
Ähnlich aüßern sich Unionspolitiker. Den Anfang machte Peter Ramsauer (CSU), der frühere Bundesverkehrsminister. Mit Beginn der Großen Koalition wurde er überraschend ausgemustert, derzeit ist er immerhin noch Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des Bundestags. Die schlechter werdenden Wirtschaftsdaten sind für ihn die Gelegenheit, sich einem breiten Publikum ins Gedächtnis zu rufen. Wenn die Konjunktur schwächer werde, müsse gegengesteuert werden, forderte er in einem Radiointerview. Die ersten zur Disposition stehenden Projekte, die ihm einfallen, sind der Mindestlohn und die Rente mit 63. Nicht anrühren will er dagegen die Mütterrente. Anders als den Mindestlohn betrachtet er diese als eine »Frage der Gerechtigkeit«. Die SPD-Linke bringt Ramsauer in Rage. »Der hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun«, wetterte der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Ralf Stegner.

Doch Ramsauer steht mit seinen Forderungen nicht alleine. Eine ganze Riege von Unionspolitikern stellt die Verabredungen der Großen Koali­tion in Frage. Der Mindestlohn und die Rente mit 63 seien »Wachstumsbremser« und würden »Hunderttausende Arbeitsplätze kosten«, sagte etwa der wirtschaftspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Joachim Pfeiffer (CDU). »Maßnahmen, die die deutsche Wirtschaft unnötig belasten, müssen mit aller Kraft vermieden werden«, forderte er. Dazu gehört quasi alles, was den Konservativen nicht gefällt: Der Mindestlohn, die ab 2016 kommende Frauenquote von 30 Prozent für die Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen oder das vorgesehene Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf. »Angesichts der gedämpften Wachstumsprognosen können wir bei den Ausgaben nicht einfach so weitermachen und mit dem Füllhorn übers Land ziehen«, warnte Pfeiffer. »Es ist an der Zeit, reine Wohlfühlprogramme zu überdenken oder zumindest zu verschieben.«
Es müsse Schluss sein »mit der Sozialromantik«, fordert der CDU-Wirtschaftspolitiker Chris­tian von Stetten. Es solle geprüft werden, »wie die schon beschlossenen wachstumshemmenden Gesetze von der Wirtschaft verkraftet würden«, sagte er. Auch Michael Fuchs, einer der unangenehmsten wirtschaftsliberalen Strippenzieher in der Union, will das Rad zurückdrehen. »Jetzt sind alle Maßnahmen zu begrüßen, die der Wirtschaft helfen. Wir sollten auch überlegen, ob wir alle Forderungen, die noch im Koalitionsvertrag stehen, wirklich sofort umsetzen müssen«, sagte Fuchs. Dabei wissen die Wirtschaftsfreunde aus der Union, dass sie derzeit keine Chance haben, ihre Forderungen durchzusetzen. Aber sie wollen Verhandlungsmasse schaffen für den – absehbaren – Fall, dass sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert und die Regierung darauf ­reagieren muss.

Allerdings nutzen auch die Sozialdemokraten diese Gelegenheit. Für die Linken in der SPD ist der Zeitpunkt gekommen, das Projekt »schwarze Null« der Bundesregierung in Frage zu stellen. Die »schwarze Null«, die Bezeichnung eines Bundeshaushalts ohne neue Kreditaufnahme, ist ein Fetisch liberaler und konservativer Wirtschaftspolitik. Im kommenden Jahr will die Bundesregierung keine neuen Kredite aufnehmen. Es wäre das erste Mal seit 1969. Das soll erreicht werden, indem die Ausgaben nur sehr moderat steigen, und zwar in den kommenden Jahren weniger als die prognostizierte Wirtschaftsleistung. Im Bundeshaushalt wird der Anteil der Ausgaben an den Investitionen sinken.
»Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, Haushaltskonsolidierung als reinen Selbstzweck zu betreiben«, läutete der SPD-Linke Stegner die Diskussion darüber ein. »Ich plädiere für höhere Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Das wollten wir schon bei den Koalitionsverhandlungen«, so Stegner. »Die schwarze Null ist eben keine sozialdemokratische Null«, sagte er. Die Union ist auf die Provokation angesprungen. »Die rote Null ist Herr Stegner«, konterte CDU-Generalsekretär Peter Tauber.
Aber auch andere SPD-Spitzenfunktionäre aus Partei und Fraktion sind der Auffassung, dass ein schuldenfreier Haushalt kein Selbstzweck sein dürfe. Führende Wirtschaftsinstitute wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung haben sich ebenfalls dafür ausgesprochen, neue Kredite aufzunehmen und zu investieren. Auch die Linkspartei hält das für richtig. Die Grünen dagegen sind in dieser Frage auf dem Kurs der Großen Koalition.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und die CDU halten eisern an der »schwarzen Null« fest. Schließlich ist es ihr Prestigeprojekt. Auch der Sozialdemokrat Gabriel will nichts von neuen Krediten für Investitionsprogramme hören und hat seine Leute unwirsch zurückgepfiffen. Seine Generalsekretärin ist allerdings nicht so kategorisch. »Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keinerlei Grund, vom Kurs einer schwarzen Null und dem Ziel einer Haushaltskonsolidierung abzuweichen«, so Yasmin Fahimi.
Zu einem anderen Zeitpunkt könnte sich die Haltung der Sozialdemokraten erheblich ändern – wenn das Wirtschaftswachstum tatsächlich einbricht. Dann könnten Konjunkturprogramme auch für die Union eine Option sein und das Projekt »schwarze Null« verschoben werden. Bereits in der Krise ab 2008 hat die Union mit Unterstützung der Sozialdemokraten hohe Ausgaben bewilligt, etwa für die Abwrackprämie zur Ankurbelung der Autoindustrie. Sollte die Bundes­regierung Kredite für Konjunkturprogramme aufnehmen und die Union ihr Prestigeprojekt tatsächlich erst einmal aufgeben, müssten die Sozialdemokraten wohl einen hohen politischen Preis dafür zahlen. Spannend könnte werden, welches ihrer Vorzeigevorhaben die regierenden Genossen verschieben werden – und ob es dann endlich Widerstand in den eigenen Reihen gegen ihren fatalen großkoalitionären Kurs geben wird.