Die Folgen der Sparpolitik für das Gesundheitssystem in Griechenland

Zeugnis der Verarmung

In Griechenland sammelt eine Initiative Zeugenaussagen, um Menschenrechtsverletzungen und gesundheitliche Schäden durch die Sparmaßnahmen zu belegen. Damit soll eine Anzeige vor dem Internationalen Strafgerichtshof unterstützt werden.

Christos Sideris hält einen mehrseitigen Fragebogen in seinen Händen. Allgemeine Fragen sollen klären, auf welche Art und Weise die Rechte einer Person verletzt worden sind. Gefragt wird unter anderem, ob man Zugang zu medizinischer Versorgung und zu öffentlichen Krankenhäusern hat und notwendige Medikamente bezahlen kann, aber auch, ob die Betroffenen ohne Strom oder Wasseranschluss leben, ob sie und ihre Familien genug zu essen haben und ob sie mit ihrem Einkommen menschenwürdig leben können. Den Fragebogen können sowohl Betroffene als auch Ärztinnen und Ärzte ausfüllen und unterschreiben.

Sideris ist der Kommunikationsbeauftragte der sozialen Arztpraxis Elliniko bei Athen. Die Praxis wurde 2011 von engagierten griechischen Ärztinnen und Ärzten gegründet, um Menschen zu helfen, die keine Praxen oder öffentliche Krankenhäuser aufsuchen können, weil sie nicht versichert oder mittellos sind. Seit ihrem Bestehen wurden in der sozialen Arztpraxis schwangere Frauen, Familien sowie selbst schwere Fälle von Krebs- und Herzerkrankungen behandelt. Zudem fordern die Aktivisten vom Gesundheitsministerium, dass Nichtversicherte Zugang zum Gesundheitssystem erhalten.
Seit kurzem unterstützt die soziale Arztpraxis eine Initiative deutscher Menschenrechtler. Damit versuchen die Aktivisten und Ärzte, größeren Druck auf die griechische Regierung auszuüben, aber auch auf diejenigen, die Griechenland seit fast fünf Jahren die harte Sparpolitik diktieren. Patienten und andere griechische Bürgerinnen und Bürger sollen mit ihren Zeugenaussagen über die Folgen der Sparpolitik eine Strafanzeige gegen unbekannt beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) stützen.
Verdacht auf Verbrechen gegen die Menschheit durch großangelegte und systematische Schädigung der Gesundheit aufgrund der Sparmaßnahmen in Griechenland – so lautet der Vorwurf. 2012 hatte Sarah Luzia Hassel-Reusing, eine Menschenrechtlerin aus Deutschland, eine Klage vor dem IStGH eingereicht. Damit wollte sie die Schädigung der Gesundheit zahlloser Griechinnen und Griechen durch Hunger und Vorenthaltung von Medikamenten anprangern und die Verantwortlichen vor Gericht bringen. Die Gesundheitsschädigung sei eine unmittelbare Folge der von der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) verlangten Sparpolitik.
»Unser Ziel ist, zu beweisen, dass die Menschenrechte in Griechenland verletzt worden sind, und dass diejenigen, die im In- und Ausland dafür verantwortlich sind, dafür bestraft werden müssen«, so Sideris. Die Arztpraxis möchte etwa 90 Zeugenaussagen sammeln, da dies erfahrungsgemäß etwa die Zahl ist, die benötigt wird, um das Gericht davon zu überzeugen, dass ein Verfahren eingeleitet werden muss. Dazu sollen Zeugenaussagen von Betroffenen und medizinischem Personal gesammelt werden. Die ersten Zeugenaussagen sind bereits eingetroffen. Sie kommen von Einwohnerinnen und Einwohnern Griechenlands, aber auch von Menschen, die das Land verlassen haben.

Die Aussagen zu sammeln sei nicht immer einfach, betont Sideris. Viele Betroffene seien verzweifelt und hätten Angst. »Angst ist das vorherrschende Gefühl in der griechischen Gesellschaft im Moment. Außerdem glauben sie, dass nichts mehr zu machen ist. Wir erklären ihnen, aus welchem Grund wir diese Zeugenaussagen sammeln und wie wichtig Gerechtigkeit ist«, sagt der Kommunikationsbeauftragte der sozialen Arztpraxis.
Eine Gruppe von etwa zehn Freiwilligen nimmt die Zeugenaussagen auf. Dazu gehört auch der Rentner Petros. Er habe bereits mit vier Betroffenen gesprochen und betont, wie wichtig es für sie sei, ihren Fall vor ein internationales Gericht zu bringen. »Sie wollen, dass ihr Problem bekannt wird. Ich merke, dass sie ihre Zeugenaussage als einen ersten Beitrag für sich selbst empfinden. Dass sie damit dem Schweigen, der Isolation ein Ende setzen«, sagt Petros.

Mit einem Video in deutscher, englischer und griechischer Sprache ruft Hassel-Reusing die griechische Bevölkerung auf, Zeugenaussagen zu sammeln. Ihre Strafanzeige wurde im November 2012 vom IStGH angenommen und ist unter dem Zeichen OTP-CR-345/12 registriert. »Es ist kein Schicksal und auch keine Naturkatastrophe, wenn Menschen gesundheitlich geschädigt werden, weil man ihnen gesundheitlich notwendige Mittel vorenthält, obwohl auch woanders gespart werden könnte«, sagt Volker Reusing, der Ehemann der Menschenrechtlerin. Es sei eine Straftat, und zwar ein Verbrechen gegen die Menschheit gemäß Artikel 7 Absatz 1 des Römischen Statuts, wenn man vorsätzlich oder systematisch die Gesundheit einer Zivilbevölkerung schädige, betont er.
In einem Blog (unser-politblog.blogspot.gr) veröffentlichen seine Frau und er Informationen über ihre Aktionen in Den Haag und die über 700 Seiten lange Strafanzeige, an der sie zwei Jahre ehrenamtlich gearbeitet haben. Das deutsche Paar ist überzeugt, dass Sozialsysteme nicht nur in Griechenland abgebaut werden, sondern auch in anderen Ländern und dies weit stärker, als die Menschen- und Grundrechte es erlauben. Sie wollen dies anhand von EU-Dokumenten aufzeigen. Es gehe darum, Gerechtigkeit für die Griechinnen und Griechen zu schaffen, aber auch darum, »möglichst viele Menschen in Europa davor zu bewahren, dass ihnen das Gleiche passiert«, sagt Reusing.