Das Comeback der zwanziger Jahre

Schirme zu, Hüte auf

Tätowierungen werden zum Massenphänomen, man fährt in der Regenhaut vom Betriebssport zum Kino, Männer tragen clowneske Kopfbedeckungen zu halbfertigen Bärten, Angestellte täuschen statt Krankheit Gesundheit vor. Ist das die Wiederkehr der zwanziger Jahre? Jakob Hayner, Leo Fischer, Roger Behrens, Magnus Klaue und Birgit Schmidt versuchen eine Antwort.

Die Zwanziger sind die ­Zwanziger sind die Zwanziger
Von Jakob Hayner
Die zwanziger Jahre kehren wieder. Wieder einmal. Oder immer wieder. Ich weiß es nicht so genau. Die Wiederkehr der Zwanziger gibt es und zugleich nicht. Sie gibt es offensichtlich, weil Phänomene dieser Zeit im Gegensatz zu Eigenheiten manch anderer Epoche nicht aus dem Alltag verschwunden sind, im Prozess des Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft unbewusst mitgeschleppt wurden, nicht als anachronistische abgestorben sind. Doch fehlt für eine Wiederkehr der Zwanziger die Spezifik des Wiederkehrenden. Nicht nur die Zwanziger kehren wieder. Auch die Fünfziger, Sechziger, Siebziger, Achtziger, Neunziger. Na ja, vor allem die beiden letzteren. Es kann also die Sache selbst, die Zwanziger isoliert betrachtet, nicht sein, etwas tritt zu ihr hinzu, die Form der Wiederkehr selbst.
Denn je genauer man das Wiederaufkommen modischer Phänomene der zwanziger Jahre in der Gegenwart betrachtet, desto weniger Herausstechendes scheint das Phänomen zu haben. Die jungurbane Mittelschicht kleidet sich in Hosenträger und Hut oder Charlestonkleid und Federboa. Das ist keine außergewöhnliche modische Gemeinheit, wenn sich zugleich wifebeater und Truckermütze einer ähnlichen Popularität erfreuen, womöglich, um in Form eines Beschwörungsrituals des white trash, im imitierenden Spiel, die drohende Zukunft oder die drohende Unterschicht abzuwenden, oder Mickey-Mouse-Shirts und unverschämt bunte Turnschuhe die eigene Unmündigkeit ins scheinbar unschuldige Gewand der Infantilität kleiden.
Man müsste jedoch Gründe nennen können, warum die Zwanziger als modisches Phänomen sich dem Absterben so zäh verweigern. Das Berliner Stadtmagazin Zitty schreibt: »Lieber noch einmal richtig feiern, als ständig nur von Krise zu reden. Ob beim Essen, Tanzen oder in der Mode – die Zwanziger sind en vogue.« Das Einmalige ist der Bruch mit der Kontinuität der Krise. Vielleicht ergibt sich die Faszination des Alltagsmythos der zwanziger Jahre tatsächlich aus dem Eindruck gesteigerter Vergänglichkeit, der Party ohne Kater, des sexuellen Abenteuers ohne Konsequenz, der Lust ohne Arbeit, dem Wunsch nach dem Ende der Geschichte im gemeinsamen apokalyptischen Exzess statt der elendigen Agonie überkommener Verhältnisse.
Doch handelt es sich heute nicht weniger um ein Wiederaufleben der Zwanziger als um eine Wiederkehr unter veränderten Bedingungen, ein Zitat? In der Mode scheint sich, seit Georg Simmel sie Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals zum Gegenstand soziologischer Untersuchung gemacht hat, einiges verändert zu haben. Simmel sah in der Mode das Bedürfnis, den Bruch mit der Vergangenheit zu vollziehen. Die Mode ist selbst Gegenwart, Wechsel, ihr Begriff bestimmt sich durch die Negation von Dauer. Doch sie kann auch im Medium der Vergangenheit zu sich selbst kommen, das Zitierte als Aktuelles präsentieren: »Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt.« (Walter Benjamin)
Was könnte also das Zitat der Zwanziger an Aktualität in sich bewahren? Gibt es in der Wiederkehr eine wesentliche Verwandtschaft? Vermutlich erfüllt das Zitat eine andere Funktion, als Benjamin vermutete. Adorno deutet in seinem Essay »Jene zwanziger Jahre« von 1962 das Wiederaufkommen kultureller Phänomene der zwanziger Jahre als restaurative Tendenz, als Versuch, eine historische Kontinuität ohne Auschwitz herzustellen, die sowohl die damalige Kunstproduktion einschränkte als auch die Zwanziger verklärte. Dabei hat das »Gespenst eines Gespenstes«, so Adornos Formulierung für die Wiederkehr der untoten Vergangenheit, einen doppelten Charakter: Das naiv Utopische der Verklärung ist zugleich Garantie der Erfahrungslosigkeit. (Die Schwärmerei ist immer nur sekundär an ihrem Objekt interessiert und vor allem an sich selbst.)
Die Zwanziger waren von einem Erfahrungsschock im »Dickicht der Städte« (Bertolt Brecht) bestimmt, die Erschütterungen des Weltkriegs wirkten nach, die »Welt von Gestern« (Stefan Zweig), die Zeit vor dem Krieg, war unendlich fern und fremd geworden. Siegfried Kracauer hat am Detail einige Veränderungen der Zwanziger beschrieben, am falschen Untergang der Regenschirme, ihrer Ablösung durch die »Regenhäute« und »Wasserkostüme«, oder an der Vertreibung der Hosenträger durch den Gürtel den Sieg der »sportbeflissenen Horizontalen«. Umfassend beschreibt er in seiner Studie »Die Angestellten« den politisch-gesellschaftlichen Aufstieg des Kleinbürgertums. Kracauer fasst die neuen Erfahrungen der zwanziger Jahre mit einem für das Detail geschärften Blick: Die durch den Fahrstuhl veränderte Geometrie der Gebäude, der neue Schein der Dinge im Lichte der Leuchtreklame, die bewegte Fotografie der »Traumfabrik« (Ilja Ehrenburg), der motorisierte Individualverkehr, der Rhythmus der unfreien Freizeit von Schlager und Jazz.
Wenn man die Zwanziger als historisches Phänomen betrachtet, ist einiges von Interesse zu finden. Was auf andere Epochen mehr oder minder auch zutreffen mag. Vielleicht ist das alles nicht so bedeutend, merkte doch bereits der große Modekritiker Hegel an, dass die Abhängigkeit von einer Mode immer noch besser als die von der Natur sei. Doch zwischen der gegenwärtigen Wiederkehr in Form der Mode und dem historischen Phänomen scheint es keine stabile Verbindung zu geben; dem Ganzen haftet etwas Zufälliges an.
Wenn jene zwanziger Jahre schon in den Sechzigern das Gespenst eines Gespenstes waren, so sind sie heute ein ruhig gestellter Geist der Vergangenheit. Das Bild verblasst, verliert an Konturen, gerät in Konkurrenz mit anderen. Ob man die Flohmärkte nach NVA-Jacken oder Al-Capone-Hüten absucht, ist möglicherweise nur ein Effekt einer vorhergehenden Wahl zwischen »Good Bye Lenin« und »The Great Gatsby«. Die Kulturindustrie kann nichts absterben lassen, alles wird konserviert, weil es so für das zur Konsumtion wiederaufbereitete Repertoire der Bilder und Zeichen zur Verfügung steht. Um die vermeintlichen Bedürfnisse der Konsumenten zu stillen, darf das Bild jedoch weder zu allgemein noch zu spezifisch sein; es muss die falsche Identität von beidem sein.
Die ideologische Funktion solcher modischen Wiederkehren liegt möglicherweise gerade in ihrer Diffusion. Versucht man, das Phänomen an seiner konkreten Gestalt festzumachen, leugnet es diese, hat den Schein des rein Exemplarischen an sich. Fast als ob es sagen würde: Ich bin doch nur ein Beispiel. Versucht man jedoch, das rein Beispielhafte zu untersuchen, gerät man an das Problem, dass das reine Beispiel nur in seiner Konkretion und Spezifikation auf bestimmte Bedürfnisse funktioniert. Und plötzlich heißt es: Ich bin doch kein Beispiel, ich bin genau dieses und jenes. In diesem Oszillieren der semantischen Funktion offenbart sich der Charakter als Alltagsmythos, wie ihn Roland Barthes in »Mythen des Alltags« beschreibt. Zeichen, die nur das Reich der Zeichen repräsentieren, ohne weiteren Inhalt, und im nächsten Moment die Unschuld reiner Signifikation sind. Diese Doppelstruktur ist das Kennzeichen der kulturindustriellen Verkehrsformen der Kommunikation im Spätkapitalismus.

Die Hüter der Verfassung
Von Leo Fischer
So golden die zwanziger Jahre auch waren, so gab es doch einen dunklen Schatten, der sich über alles legte, der die Menschen mit Ähnlichkeit schlug und sie festlegte auf ihren gesellschaftlichen Status, so grausam und unerbittlich wie das indische Kastenwesen. Allesamt belastet und beschwert waren die Köpfe, insonderheit natürlich die der Männer, nämlich durch Hüte. Hüte, jene Stoff gewordene Borniertheit, jene schmähliche Beschränkung unseres Geistes, die den Schädel zusammenquetschen, die Hirne überhitzen, das Rückenmark beschweren und überhaupt jede Freiheits- und Verstandestätigkeit nicht nur symbolisch, sondern erwiesenermaßen anatomisch einschränken. Wer Hüte trägt, denkt nicht.
Und es ist kein Zufall, dass in der grenzenlosen Begeisterung der Jungen für die vordigitale Welt Hüte derzeit ein schauriges Revival feiern. Keine Studentensause, auf der nicht wieder jemand ein noch älteres, noch kurioseres Modell vorführen muss; keine Vernissage, bei der nicht jemand mit seinem Basken- oder Schieberkäppi angibt, in grotesker Verkennung oder brutaler Feier der Unhöflichkeit, die es bedeutet, in geschlossenen Räumen Hüte zu tragen. Denn es werden ja durchaus nur die materiellen Relikte der Vergangenheit beerbt, nicht die damit verbundenen Ideen. Man will aussehen wie ein viktorianischer Gentleman, nur um dann haargenau so grob und gemein zu sein wie im Sweatshirt – ja um die eigene Grob- und Gemeinheit sogar noch zu unterstreichen! Man kleidet sich wie Bert Brecht, um dann auf den Foren von Welt Online Meinungsschrott zu hinterlassen.
Es gab einmal viele gute Gründe dafür, Hüte zu tragen, aber die meisten davon sind mit dem technischen Fortschritt verschwunden. Einige wenige sind noch statthaft: Als Schutz vor wirklich schlimmen Witterungsphänomenen ist ein Hut erlaubt, auch als letzte Rettung alternder Mannsbilder, die ihre Kahlheit kostengünstig bedecken wollen. Aber Hüte tragen und es so meinen, Hüte nämlich als Zitat eines werweiß besseren Gestern, muss mit den stärksten Waffen gesellschaftlicher Nichtachtung bestraft werden. Denn das ist es doch, was einem die Retrohutträger signalisieren: dass man es mit einem Clown, einem Verkleideten zu tun hat, der bitte auf keinen Fall ernstgenommen werden darf; einem Feind des Fortschritts und wahrer Schönheit; einem, dem die Gegenwart nichts bedeutet und der zugleich die von ihm bejubelte Vergangenheit durch die plumpe Form der Aneignung lächerlich macht.
Wer hat denn historisch Hüte getragen? Soldaten und Priester, die Feinde wahrer Aufklärung. Die einen als Schutz vor Verletzungen, die anderen als mystisches Symbol, als Verlängerung der Gedankenkraft ins Kosmische hinein, auch um das niedere Pack durch den Eindruck körperlicher Größe zu verwirren. Und wie alle Elemente sozialer Kontrolle leben auch Hüte von der Negation der Sexualität: Hüte sind Instrumente der Keuschheit, der Scham. Sie verbergen natürliche Schönheit, leugnen unser tierisches Erbe, vereindeutigen Geschlechteridentitäten. Nimmt man all seine Funktionen zusammen, so handelt es sich beim Hut ganz allgemein um einen Schutz gegen die unsichtbaren Kräfte von oben, Schutz also gegen den Geist. Noch nie wurde ein kluges Wort unter einem Hut hervor geäußert; jeder Gedanke eines Hutträgers zeigt die Druckstelle, die eine sich ihm unbarmherzig ins Fleisch schneidende Hutschnur hinterlassen hat.
Dann die Statusfunktion! Wer in den zwanziger Jahren Hut trug, musste das meist tun, nämlich um seinen sozialen Rang auszuweisen. Arbeiter, Soldaten, die Angestellten, alle waren an einer ihr eigenen Hutmode erkenntlich, ein Ausscheren aus der Konvention wurde sanktioniert, allenfalls als komisch wahrgenommen. Hüte waren Instrument sozialer Stratifikation, letztlich Ausdruck einer Stände- oder doch wenigstens Klassengesellschaft, immerhin einer, in der soziale Mobilität nicht erwünscht war. Wer heute Hut trägt, kokettiert schon wieder mit einer Welt, in der jeder einen Rang und eine Nummer hat. Wer Krawatte und Hemd aus politischen Gründen ablehnt, muss auch Hüte ablehnen.
Man verstehe das nicht falsch: Es gibt Hutmode, die nichts als Kunst sein will, ein Fest von Form, Farbe und Stoff, und die gilt es natürlich rückhaltlos zu fördern. Nur sei jedem Hutmacher gesagt, dass er einzig als verrückter Hutmacher eine Existenzberechtigung hat. Denn sein Material ist soziale Kontrolle, er hält pure reaktionäre Gewalt in Händen und muss sie also im Schöpfungsakt bezwingen. Kein Hut, der reinen Herzens gefertigt wird, darf je dazu geeignet sein, den Menschen wieder ihren Platz in der Gesellschaft anzuweisen; idealerweise muss er ein Einzelstück sein, jeden historischen Bezug bewusst invertierend. Hutmacher haben sich zu verstehen in allererster Linie als Verfassungsschützer, als Beschützer der Demokratie und der freien Gesellschaft. Wer Hut trägt, darf dies hingegen nur im Wissen darum, dass aus jedem Hut der Hut Hitlers werden kann.

Der Autor hat eine Schädelform, die für das Tragen von Hüten ungeeignet ist.

Was ist es nur, das das Leben heute so anders, so angenehm macht?
Von Roger Behrens
Von Anfang an, das heißt seit den fünfziger Jahren, kapriziert sich die Popkultur auf die Wiederholung der Geschichte, die sie damit, als Geschichte im emphatischen Sinne, als Prozesslogik sozialer Selbstentfaltung des Menschen, zugleich verleugnet und überhöht: verleugnet, weil sie die historische Vergangenheit nur als kulturelle Anekdote wiederholt und damit zum bloßen Accessoire der neusten Mode macht; überhöht, weil sie die Geschichte in einer Allgegenwärtigkeit der Gegenwart stillstellt, womit zum einen eben nicht das Unabgegoltene der Vergangenheit aktualisiert, zum anderen das Heute zur jetzt schon verfügbaren Zukunft aufgeplustert wird. In ihrer Selbstrepräsentation erzeugt die Popkultur so einen Mythos, der Form und Inhalt scheinbar aus dem Kommenden bezieht: Heute schon zu wissen, was morgen angesagt sein wird, ist die Direktive popauthentischer Präsenz und heißt, up to date zu sein. Doch das, was sein wird, ist das, was immer schon war: als Gegenwart wiederholt die Zukunft die Vergangenheit. Geschichte selbst wird damit zur Mode.
Mode ist so etwas wie die kulturelle Karikatur einer Gesellschaft, der das Geschichtsbewusstsein abhanden kommt; es ist die Karikatur der Weigerung, sich der Vergangenheit als – grausame, katastrophale – Wirklichkeit kritisch zu stellen. Ebenso ist aber die Mode auch Karikatur der Weigerung, sich der Zukunft als – noch utopische – Möglichkeit kritisch zu stellen. Im konservativen Zerrbild ist das immer wieder zu der Parole vom Ende der Geschichte geronnen. Dagegen verspricht alltagsideologisch die Mode ganz entgegen der konservativen Meinung, dass es trotz posthistorischer Zustände noch Fortschritt gibt. Es kommt nicht von ungefähr, dass Walter Benjamin im Ausklang des in der Weimarer Republik »golden« eingefärbten Jahrzehnts, das jäh durch Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus allen, auch menschlichen Glanz verlor, als erster die Mode in eine geschichtsphilosophische Konstellation brachte. »Die Mode ist die ewige Wiederkehr des Neuen«, notierte Benjamin. Auch: »Die Mode schreibt das Ritual vor, nach dem der Fetisch Ware verehrt sein will.« Schließlich: »Die Mode steht im Dunkel des gelebten Augenblicks, aber im kollektiven. – Mode (zählt) zum Traumbewusstsein des Kollektivs. Man muss dem nachgehen, wie es erwacht. Z. B. in der Reklame.« Und deshalb fragt Benjamin: »Gibt es trotzdem gerade in der Mode Motive der Rettung?«
Motive der Rettung in der Mode entwirft die Popkultur – und zwar billig dialektisch, ganz im Sinne einer demokratischen Fassung dessen, was Benjamin am Faschismus als »Ästhetisierung der Politik« beobachtete: als Reklame. Beispielhaft ist dafür die Collage, die Richard Hamilton 1956 für die Ausstellung »This is Tomor­row‹»als Poster zusammenklebt: »Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?« Der Titel ist eine Frage, die das Bild beantwortet. Zu sehen ist ein Innenraum, ein Wohnzimmer, zugestellt mit den Errungenschaften des modernen Lebens einer internationalen Massenkultur – als solche galt damals die amerikanische. Deshalb hat sich Hamilton ausschließlich bei amerikanischen Illustrierten, Magazinen und Werbeprospekten bedient. Inmitten von Fernseher, Staubsauger, Dosenfleisch, Tonbandgerät, Comic, Tageszeitung finden sich zwei Figuren: ein Pin-up-Girl und ein Bodybuilder; zum Tennisschläger vergrößert hält er einen Lolli der Marke »Pop« – also Reklame! Nach dieser Collage wurde der Begriff der Pop Art gebildet, kurze Zeit später war dann erstmals von Popkultur statt von popular culture die Rede.
Für die Welt von morgen, die heute schon zu haben ist, hat Hamilton einen Raum geschaffen, der bereits nach der zeitlichen Signatur der Mode funktioniert. Alles, was sich hier als Geschichte zuträgt, ereignet sich als private Angelegenheit. Hamilton selbst hat versucht, in folgenden Jahrzehnten die Collage zu aktualisieren. Auch im schulischen Kunstunterricht ist das ein beliebtes Thema: Wie würde das Bild von 1956 zu Beginn des 21. Jahrhunderts aussehen? Beziehungsweise: »Was macht das Leben heute so anders, so angenehm?« Sämtliche Versuche, die Collage mit entsprechenden Schnipseln zu vergegenwärtigen, wirken fade, banal, auch hilflos.
Das mag nicht zuletzt auch daran liegen, das mit dieser emblematischen Collage die symbolische Vorlage geliefert wurde für das Prinzip der Popkultur als in wiederholten Moden sich auflösende Geschichte: Die Fünfziger sind selbst das erste Popjahrzehnt, das dann in den Siebzigern wiederholt wurde; folgerichtig rekapitulierten die Achtziger die Moden der Sechziger. Als dann die Neunziger anfingen, die Moden der Siebziger noch einmal zu bedienen, hatten sie bereits die modisch verdoppelten Fünfziger im Angebot, und auch die schnell aktualisierten Achtziger waren bereits geprägt durch Wiederholungen der Sechziger. Kulturell kam es zu einem Überschlag, der großtheoretisch als Postmoderne diagnostiziert und für den alltagskulturellen Hausgebrauch mit dem Stichwort »Retrophänomen« beschrieben wurde. Der Musikjournalist Simon Reynolds nannte das vor zwei Jahren eine »Retromania« (Jungle World 41/2012). Längst hatte sich die Mode in ihrer Zitierwut totgelaufen.
Bemerkenswerterweise gab es in den Jahrzehnten des Aufstiegs und Falls der Popkultur keinen als allgemeinverbindlich erkennbaren Zitatzugriff auf die Jahrzehnte vor den Fünfzigern. Das Zitat im Pop ist vor allem ein Selbstzitat des Pop. Das ändert sich nun, wo die Ideologie des kulturellen Modells »Pop« kaum noch symbolisch konsistent und kohärent funktioniert. Seit der Jahrtausendwende sind es insbesondere die enthistorisierten »Roaring Twenties«, auch die »Goldenen Zwanziger« genannt, die hier und da als Anekdote, als Accessoire bemüht werden. Es ist gleichsam der Blick aus der Pop-Monade, der hier auf eine Vergangenheit gerichtet wird, die aber als Vergangenheit gar nicht wirklich in Betracht kommt; der Blick aus der Pop-Monade, die dann nämlich doch ein Fenster hat – so wie das Wohnzimmer auf der Collage von Hamilton 1956. Hier gab das Fenster die Sicht frei – und man konnte vom zukünftigen, ort- und zeitlosen »Home« direkt auf den Broadway nach New York sehen: eine Schwarzweiß-Perspektive auf ein Kino und seine mit großen Transparenten verhängte Fassade, die für den ersten abendfüllenden Tonspielfilm, »The Jazz Singer«, Reklame machten. 1956 ist das ein Rückblick, über den Zweiten Weltkrieg und den Faschismus, erst recht den systematischen Massenmord hinwegsehend, ein Rückblick, der so tut, als sei die Welt da draußen das letzte Mal in den Zwanzigern in Ordnung gewesen.
Kluge Popkultur – die ja zu keinem Zeitpunkt allgemeinverbindliche Symbole hervorbrachte und deshalb im Nachhinein auch in die einfache Zitatmasse eingeknetet wurde – hat bei aller Affinität zur Mode versucht, Geschichte als Geschichte zu aktualisieren. Auch ihr ist es zu verdanken, dass man heute wissen kann, dass sich auf zum Beispiel die Zwanziger nicht einfach nonchalant zurückgreifen lässt, als sei Geschichte nur eine Angelegenheit von Farbtrends, Frisuren und Hosenschnitt. Dass das aber heute genau so geschieht, dass also Geschichte doch nicht mehr sein soll als die zeitlose Mode, macht das Zitieren der Zwanziger nicht einfach nur geschmacklos, sondern perfide und dumm.

Berliner Jungens
Von Magnus Klaue
Als sie am 19. April 1933, kaum ein Vierteljahr nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten, aus Deutschland in die Schweiz emigrierte, war die Dichterin Else Lasker-Schüler 64 Jahre alt. Unmittelbar vorausgegangen war ihrer Flucht ein gewalttätiger Übergriff. Eine Gruppe junger SA-Männer hatte sie auf offener Straße zusammengeschlagen. Binnen weniger Tage packte sie die Koffer und verließ das Land. Berlin, das sie hinter sich ließ, hatte sie über Jahrzehnte als exzentrische Figur der Caféhaus-Boheme gekannt, sie nannte sich selbst nicht nur in ihren Dichtungen »Tino von Bagdad« und »Jussuf von Theben«, sondern unterschrieb mit diesen Kunstnamen auch Briefe und Verträge. Berlin und Theben beständig ineinander zu verwandeln, der empirischen Wirklichkeit, ohne sie zu verlassen, eine zweite, phantastischere und deshalb wirklichere abzugewinnen, in der alle, gerade weil niemand mehr auf seine gesellschaftliche Identität verpflichtet wäre, in allen ihren Möglichkeiten zu sich selbst kämen, war Telos ihrer Dichtung wie ihres Lebens. Möglich schien das innerhalb Deutschlands in den zwanziger Jahren nur in Berlin, allein hier schien der Kosmopolitismus ein Versprechen nicht der Außenpolitik, sondern des Alltags zu sein.
Doch erst indem dieser Alltag die als Teil des eigenen Skurrilitätenkabinetts geliebte Exotin als Lebensunwerte ausspuckte, kam er als Berliner Alltag zu sich selbst. Weit eher als in Militärparaden und Olympiafeiern kam in der Schlüsselerfahrung von Lasker-Schülers Emigration, in der lässig und widerspruchslos ausgelebten Gewalt einer Gruppe qua Abzeichen dazu legitimierter refraktärer Bengel gegen eine wunderliche alte Frau, das Wesen des Nationalsozialismus zum Ausdruck, der keine Ideologie Ewiggestriger, sondern eine volksdeutsche Jugendbewegung auf der Höhe der Zeit gewesen ist. Die Macht haben die Nazis nicht ergriffen, sondern erteilt, indem sie jeden Schüler und jeden Hausmeister, jede Putzfrau und jede Sekretärin zum alltäglichen sanktionslosen Judenmord, zur basisdemokratischen Ausplünderung volksfremder Nachbarn und zur Denunziation zersetzender Elemente, die einfach nur störende Konkurrenten zu sein brauchten, ermächtigten. Es bedarf lediglich etwas retrospektiver Phantasie, um zu ermessen, in welchem Maße die angeblich goldenen, libertären zwanziger Jahre, die dem vorausgingen, bis in die Kleinigkeiten des Alltags hinein gezeichnet waren von dem, was folgte. Die Neue Sachlichkeit, die einer noch immer populären Ansicht zufolge von Urbanität und Amerikanismus geprägte Kunst- und Lebenstendenz jener Zeit, war ein genuin deutsches Phänomen: deutscher Amerikanismus und eben deshalb keiner mehr. Die Zusammenkunft von Zartheit und Distanz, Anonymität und Freundlichkeit, die das Alltagsverhalten in angloamerikanischen Großstädten noch heute auszeichnet, mutierte in seiner Berliner Variante zu einer Mischung aus Rohheit und Abhärtung, in der die existentialontologische Zackigkeit Ernst Jüngers ebenso Platz fand wie die deftig-brutale Herzenswärme Heinrich Zilles. Vom Ideal der Sportlichkeit, das in Amerika eine Moral der Fairness, Rücksicht und freien Konkurrenz impliziert, blieb ein allenfalls ästhetisch gemildertes Zivilsoldatentum zurück, und selbst die Freiheit der Neuen Frauen war weniger substantielle Emanzipation als Vorbereitung auf die künftige Mobilisierung, die die Frau nicht zurück an den Herd schickte, sondern sie als Volksgenossin des Mannes gleichberechtigt an der täglichen Ausmerze teilhaben ließ. Das Berliner Liedgut, traditionell durch die Verschmelzung von Gemeinheit und Gesang, Lyrik und Lustmord charakterisiert, bringt zur Anschauung, dass die Stadt bei ihren Einwohnern und Liebhabern vor allem als Zivilisationsdschungel, als negative Selbstaufhebung der Urbanität in der urban instrumentierten Barbarei, geliebt wurde. Von »Solang noch untern Linden«, »Durch Berlin fließt immer noch die Spree« und dem »Sportpalastwalzer« aus den Zwanzigern über »Berlin bleibt doch Berlin« von 1949 bis zum 1969 von den Schöneberger Sängerknaben intonierten »Berliner Jungens, die sind richtig« wiederholt es immer wieder die von den Liedern selbst wiederholte derbe Unkaputtbarkeit der Stadt, die nach der einstweilen nicht ganz gelungenen Vernichtung der europäischen Juden arm, aber sexy geblieben ist wie ihre urwüchsigsten Pflanzen.
Else Lasker-Schüler ist nicht vor Angehörigen einer kiezfremden Geheimpolizei geflohen, sondern vor richtigen Berliner Jungens, die schon damals nicht unbedingt aus Berlin stammen mussten und die von so abgebrühter guter Laune waren wie heute die pubertierenden Banden, die in Parks und U-Bahnen Obdachlose verprügeln. Sie waren keine Bauernlümmel, sondern Großstadtbengel, die einzige Einwohnerschaft, die sich in dieser Stadt so wohl fühlt wie die Stadt mit ihr. Sie können 15 oder 50 Jahre alt sein, sie bleiben sich gleich in ihrer mordbereiten Unverwüstlichkeit und widerspenstigen Häme. Sie konservieren den autoritären Charakter jenes »bösen Kameraden«, in dem Adorno im gleichnamigen Abschnitt der »Minima Moralia« in Erinnerung an die eigene Schulzeit den aufdämmernden Faschismus entzifferte. Denn weit eher als im Lehrer, der seinen Schüler abkanzelt, verkörpert sich der autoritäre Charakter im Schüler, der seinen Lehrer totschlägt. Die zwanziger Jahre waren seine Reifezeit.

Simulierte Gesundheit
Von Birgit Schmidt
Als die amerikanische Schriftstellerin Katherine Anne Porter im Jahr 1931 vier Monate in Berlin verbrachte, schreckte sie schaudernd vor der gewalttätigen Atmosphäre zurück, die in jener Zeit bereits herrschte. Und sie wunderte sich über die Eigenart deutscher Männer aus dem rechten bis reaktionären Milieu, vorgeblichen Mut und vorgebliche Männlichkeit zur Schau zu stellen, indem sie mit Stolz die Narben im Gesicht trugen, die sie sich als Mitglieder einer schlagenden Verbindung selbst zugefügt hatten: Der Schmiss sei ein deutsches Phänomen, amerikanische junge Männer hingegen hätten keine Tendenz zur Selbstverstümmelung, befand Porter. Sie fühlte sich in Deutschland nicht wohl, spürte, dass etwas Bedrohliches sich anbahnte, und reiste nach Spanien ab.
Im Berliner Arbeiterbezirk Neukölln machte die Stadtärztin Käte Frankenthal derweil ähnliche Beobachtungen. Die 1889 in Kiel Geborene war eine jener selbstbewussten und emanzipierten Frauen, die den Hass der sie bald verfolgenden Nationalsozialisten auf sich zogen. Sie hatte sich dazu entschlossen, unverheiratet und kinderlos zu bleiben, hatte Medizin studiert, eine Praxis eröffnet und sich gleichzeitig in die Politik gestürzt. Käte Frankenthal war seit 1920 SPD-Mitglied gewesen, trat aber 1931 in die SAP, die Sozialistische Arbeiterpartei, ein. Stadtärztin in Neukölln war sie seit 1928. Als solche beobachtete sie zwei Phänomene. Zum einen stellte sie fest, dass ihre Patienten simulierten. Doch statt Krankheit zu simulieren, um über ihre Ärztin einige freie Tage zu bekommen, simulierten sie Gesundheit: »Der Arbeitsplatz«, schreibt sie, »war etwas Unersetzliches und wurde nicht leichtfertig gefährdet. Es war oft schwer, Kranke zu überreden, zu Hause zu bleiben.«
Zum anderen beobachtete sie, dass es immer mehr tätowierte Patienten gab, von denen viele ihre heimliche Passion vorerst noch mit Kleidung bedeckten. »Merkwürdigerweise«, heißt es in ihren Erinnerungen, »fand ich in den körperlichen Untersuchungen einen Weg, die Stimmung zu beobachten. Die Deutschen lieben es, sich zu tätowieren. Häufig fand ich Brust und Arme bedeckt mit Herzen, Frauenbildern usw., seltener mit Hammer und Sichel. Immer häufiger fand ich Fälle, die sich der schmerzhaften Prozedur unterzogen hatten, um auf der Brust ein riesiges Hakenkreuz zu tragen.«
Die Deutschen lieben es, sich zu tätowieren – damals noch nicht im bürgerlicheren Bezirk Tiergarten, wo Frankenthal bis zu ihrer Berufung zur Stadtärztin eine eigene Praxis unterhalten hatte, sondern im proletarischen Neukölln, wo viele bereits als ausgesteuert galten und von der städtischen Fürsorge auf eine Art und Weise reglementiert wurden, die gleichfalls an die Gegenwart erinnert. »Die Bedürftigen waren in der gleichen Lage wie Kinder, die kein Taschengeld hatten«, schreibt Frankenthal. Sie mussten Anträge stellen, bitten, fordern, trotzen: »Ein großer Stab von Fürsorgerinnen war von der Stadt angestellt. Sie gingen in die Wohnungen und sahen den Leuten in die Schränke.«
Die Wut und den Frust richteten Betroffene gegen sich selbst, ritzten sie in ihre Haut, um sie stolz als Bekenntnis zur eigenen Abhärtung und Zähigkeit zu tragen. Dann, als es möglich wurde, richteten sie sie gegen diejenigen, derer sie habhaft werden konnten. »Ein besonders brutaler Ausbruch von Feindseligkeit der so individuell Befürsorgten«, berichtet Frankenthal, »erregte Anfang 1933 die Presse in Deutschlands Nachbarländern. Eines der ersten Opfer der Nazis, das in der Nacht (des 21. März) aus ihrer Wohnung geschleppt und halbtot geprügelt wurde, war eine Frau Jankowski, die in der städtischen Wohlfahrt tätig gewesen war. Ich kannte (Maria) Jankowski gut. Sie war Sozialdemokratin, eine anspruchslose Frau, die politisch nicht hervorgetreten war. Dass gerade sie das Opfer einer der ersten Misshandlungen wurde, ging auf ihre wohlfahrtspflegerische Tätigkeit zurück. Ein junger Bursche, dem sie ein Paar Schuhe abgelehnt hatte, weil sie fand, dass er noch genug brauchbare Schuhe hatte, hatte ihr gleich angekündigt, dass er es ihr heimzahlen werde, wenn Adolf Hitler zur Macht komme. Er hatte Wort gehalten.«
Käte Frankenthal gelang es am 31. März 1933, Berlin zu verlassen. Bis September 1936 trieb sie als nicht geduldete Emigrantin durch Frankreich, die Schweiz und die Tschechoslowakei, dann gelang ihr die Flucht in die Vereinigten Staaten. Lange musste sie sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten, bevor sie sich zur Psychoanalytikerin ausbilden und eine eigene Praxis eröffnen konnte. Ihre Erinnerungen an das Berlin der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, die 1981 unter dem Titel »Der dreifache Fluch: Jüdin, Intellektuelle, Sozialistin. Lebenserinnerungen einer Ärztin in Deutschland und im Exil« erschienen, sind heute nur noch antiquarisch zu erhalten. Bedauerlicherweise, denn zahlreiche Phänomene, die die Stadtärztin von Neukölln beobachtet hat, erscheinen erstaunlich aktuell. Als Ärztin, die sich an den praktischen Aufgaben ihres aufreibenden Alltags orientieren musste, diskutierte und interpretierte sie nicht. Das blieb ihrem Publikum vorbehalten, auch dem heutigen.