Streiks und Sparpolitik im britischen NHS

Streik nach 133 Jahren

Mitte Oktober gab es eine Streikwelle in Großbritannien, die sogar den Gesundheitssektor erfasste. Doch die Sparpolitik geht unaufhaltsam weiter.

Unter dem Motto »Britain needs a payrise« (Großbritannien braucht eine Lohnerhöhung) zogen am 14. Oktober 100 000 Menschen durch die Innenstadt Londons. Aufgerufen hatte der Trades Union Congress (TUC), der größte Gewerkschaftsdachverband des Landes, der vor allem im öffentlichen Dienst etwa 6,5 Millionen Menschen vertritt, aber seit Jahrzehnten unter Mitgliederschwund leidet. Die Demonstration richtete sich in erster Linie gegen die Austeritätspolitik der Regierung des Premierministers David Cameron, einer Koalition der Konservativen mit der Liberaldemokratischen Partei. Der TUC erklärte, seit Beginn der Finanzkrise 2008 seien die Reallöhne in Großbritannien bei steigender Inflation kontinuierlich zurückgegangen, im Schnitt um 50 Pfund (63 Euro) pro Woche, während die Elite des Landes immer mehr Reichtum akkumuliere – das durchschnittliche Realeinkommen der »FTSE 100 CEOs«, der Chefs der 100 umsatzstärksten Firmen Großbritanniens, beträgt das 185fache eines durchschnittlichen Arbeiterlohns; 1998 war das Verhältnis noch 45 : 1. Überdies lebten 6,1 Millionen Menschen mit Arbeitsvertrag unter dem Existenzminimum, Tendenz steigend.
Demonstrationen wie diese finden seit dem Amtsantritt Camerons 2010 wegen dessen als Maßnahme gegen die Krise begründeter Spar- und Kürzungspolitik regelmäßig statt. 2011 rief der TUC zu einem »March for the Alternative« auf, mit 250 000 bis 500 000 Menschen die größte Demonstration seit den Demonstrationen gegen den Irak-Krieg 2003; 2012 lautete das Motto der zentralen Demonstration »A Future that Works«, es gab Forderungen nach Arbeitsplätzen, Wachstum und sozialer Gerechtigkeit. Nach einem Jahr Abstinenz und der diesjährigen Forderung nach einem Plan zur sukzessiven Erhöhung der Löhne knüpft der TUC nun an ein Programm der sozialdemokratischen Labour-Partei an: Diese will neben einem Mindestlohn von acht Pfund eine Aufstockung um mickrige 26 Pence in der Stunde bis 2020 durchsetzen – das alles freilich nicht im informellen und nicht im Zeit- und Leiharbeitssektor. Die Labour-Partei solle tatsächlich bei diesem Plan bleiben und keine »austerity light« einführen, sollte sie bei den Unterhauswahlen im Mai 2015 wieder an die Macht kommen, forderte der TUC.

Die britische Regierung reagierte geradezu ignorant auf die Forderungen der Demonstrierenden. Sowohl die Labour-Partei als auch die Konservativen berufen sich auf ähnliche wirtschaftspolitische Zahlen und Statistiken. Demnach könne Großbritannien dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent, nächstes Jahr gar eines um die drei Prozent erreichen. Diese Werte liegen weit über dem EU-Durchschnitt. Das Haushaltsdefizit liegt bei noch relativ hohen 5,1 Prozent, soll aber nächstes Jahr auf vier Prozent gesenkt werden und an die Entwicklung vergangener Jahre anknüpfen. Während TUC und Labour darin Gründe sehen, endlich auch einmal die von der Sparpolitik hart getroffene Mittelschicht für den nationalen Erfolg zu belohnen, verweist Camerons Kabinett darauf, dass diese positiven Tendenzen Ergebnis seiner Spar- und Kürzungspolitik seien und daher der Kurs beibehalten werden müsse. Unterstützung erhält es dabei von der prominentesten Vertreterin der Austeritätspolitik, der deutschen Regierung unter Angela Merkel.
Die diesjährige Demonstration war nur der Kulminationspunkt einer Woche diverser Streiks im öffentlichen Dienst. Insbesondere die landesweit koordinierten Proteste im National Health Service (NHS) schlugen Wellen. Der öffentliche Gesundheitsdienst wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, ist staatlich finanziert und hat das Ziel, alle Britinnen und Briten kostenlos medizinisch zu versorgen. Trotz dieser ehrwürdigen Ideale zeichnen sich die Dienste des NHS seit Jahren vor allem durch lange Wartezeiten sowie Personalmangel aus. Seit Camerons Amtsantritt ist die Reform des NHS ein zentrales innenpolitisches Ziel. Die staatlichen Ausgaben sollen bei der »radikalsten NHS-Reform seit Jahrzehnten« (Cameron) bis 2015 von umgerechnet etwa 115 Milliarden Euro um 18 Milliarden Euro reduziert werden. Dabei werden vermutlich 25 000 Arbeitsplätze abgeschafft sowie viele Bereiche des Gesundheitswesens privatisiert.

Die Gewerkschaften der NHS-Bediensteten protestieren schon lange dagegen. Kürzlich forderten sie für weite Teile der Angestellten im Gesundheitswesen eine Lohnerhöhung um ein Prozent als Reaktion auf die Reallohnkürzung um 15 Prozent seit dem Amtsantritt Camerons. Als diese sicher geglaubte Erhöhung später vom Gesundheitsministerium abgelehnt wurde, riefen die größten Gewerkschaften im NHS zum ersten Streik seit 31 Jahren auf. Allein zwei dieser Gewerkschaften im TUC, Unite und Unison, vertreten knapp 350 000 Krankenpflegerinnen und -pfleger und anderes Klinikpersonal in Großbritannien und Nordirland. Die zentrale Vereinigung für Hebammen, das Royal College of Midwives, legte die Arbeit gar das erste Mal seit ihrem 133jährigen Bestehen nieder.
In der Öffentlichkeit wurde der Streik im NHS meist verständnisvoll aufgenommen. Der TUC nutzte diese Initiativen sowie Protestaktionen in anderen Bereichen, zum Beispiel von Verwaltungsangestellten und Beamtinnen und Beamten in lokalen Regierungen, um sich wie in guten alten Zeiten als starker Vertreter der gesamten britischen Arbeiterklasse zu inszenieren. Doch diese Inszenierung wird überschattet von der korporatistischen Politik des TUC. Inspiriert durch die Initiativen im NHS sowie der Staatsangestellten wuchs auch die Motivation zum Arbeitskampf in sämtlichen anderen Bereichen, etwa bei den Londoner U-Bahn-Fahrerinnen und -Fahrern sowie Angestellten im Bildungswesen. Diese wie auch andere regionale Streikvorhaben unterband der TUC im Einvernehmen mit den Arbeitgebern aufgrund angeblich erfolgreicher Einigungen in letzter Minute. Diese als »Übereinkünfte« propagierte Streikabwehr bezeichnete nicht nur die Gewerkschaftsbasis, sondern teilweise auch die linksliberale Presse als lächerlich und an den Haaren herbeigezogen.

Trotz oder gerade aufgrund dieser strikt auf politischen Machtgewinn zugunsten der Sozialdemokratie ausgerichteten Haltung des TUC beteiligten sich auch zahlreiche linke und linksradikale Parteien und Organisationen an der britischen Streikwoche. Das undogmatisch-kommunistische Bündnis Plan C organisierte neben einer Beteiligung an der Demonstration einen über die Aktionswoche hinausgehenden Austausch zu den Themen Lohnarbeit, Produktion, Reproduktion und Kapitalismus. Es kritisierte, dass der TUC bestimmte Sektoren nicht repräsentiere beziehungsweise aktiv unterdrücke; als jüngste Belege dafür galten die gewerkschaftliche Zustimmung zu fünfmonatigen unbezahlten Traineeships und die Durchsetzung von weiteren workfare-Programmen gemeinsam mit der Industrie- und Handelskammer. Außerdem problematisierte Plan C den neokeynesianistischen Kurs der Gewerkschaften samt der britischen Sozialdemokratie; dieser ist schon an zentralen Forderungen der Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, etwa nach Arbeit und Wachstum, auszumachen. Solch eine Antwort auf die Sparpolitik der Konservativen werde das Krisenhafte, nämlich den Kapitalismus als solchen, zweifelsohne nicht abschaffen, sondern ihn bloß korrigieren und seine Lebensfähigkeit unter Umständen verlängern, kritisierte Plan C.