Massen protestierten in Italien gegen die Deregulierung des Arbeitsmarkts

Privilegien für alle

In Italien wurde gegen die von der Regierung geplante Deregulierung des Arbeitsmarks demonstriert. Die Opposition bleibt dennoch schwach.

Alljährlich kündigen die italienischen Gewerkschaften im Spätsommer der jeweils amtierenden Regierung einen »heißen Herbst« an. Doch in diesem Jahr könnte die zur Gewohnheit verkommene Anspielung auf den autunno caldo von 1969, in dem sich Arbeiterkämpfe und Studentenproteste radikalisierten, gerechtfertigt sein. Die vom linksgerichteten Gewerkschaftsbund CGIL am letzten Oktoberwochenende organisierte Demonstration gegen die arbeits- und sozialpolitischen Reformen, die Ministerpräsident Matteo Renzi als »Jobs Act« propagiert, soll demnach nur der Auftakt zu einer Serie weiterer Protestaktionen gewesen sein. Unter einem Meer von roten Fahnen und Luftballons zog eine unerwartet große Menge auf die Piazza San Giovanni, dem traditionellen Kundgebungsplatz der italienischen Linken. Hunderttausende Menschen, darunter Fabrikbelegschaften, Angestellte des öffentlichen Dienstes, Studierende und prekär Beschäftigte, Arbeitslose und Rentner, einzeln oder unter dem Banner einer linken Splitterpartei, Sparten- oder Basisgewerkschaften, beschworen zu der x-ten Version des Partisanenliedes »Bella ciao« ihren Kampfgeist und drohten der Regierung mit einem Generalstreik, sollte sie sich weigern, den Gewerkschaftsforderungen »Gehör« und »Respekt« zu schenken.

Obwohl Italiens Wirtschaftsleistung seit drei Jahren schrumpft und die Arbeitslosenzahlen weit höher liegen als die statistisch offiziell erfasste Gesamtquote von zwölf Prozent, beziehungsweise 44 Prozent bei den unter 24Jährigen, setzt Renzis »Jobs Act« gemäß den europäischen Spar- und Reformvorgaben allein auf eine weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes. Nachdem bereits im Frühjahr die Möglichkeiten für befristete Beschäftigungs- und unterbezahlte Ausbildungsverträge ausgeweitet wurden, soll nun der in Artikel 18 des Arbeitsstatuts garantierte Kündigungsschutz aufgehoben werden.
Infolge der prekären Arbeitsverhältnisse wird die Zahl derer, die sich als Festangestellte in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten auf den in den Arbeiterkämpfen der siebziger Jahre erstrittenen Kündigungsschutz berufen können, ohnehin immer geringer. Die Regierung deutet den Artikel 18 deshalb nicht mehr als fundamentales Recht für alle, sondern als »Privileg« vornehmlich älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das zugunsten der »jungen Generation« abgeschafft werden soll. Gegen die perfide Argumentation der Regierung forderten die Demonstrierenden in Rom eine Ausdehnung des Kündigungsschutzes auf alle Beschäftigten. Der Streit um den Artikel 18 steht dabei symbolisch für den Kampf gegen die fortgesetzte Aushebelung arbeitsrechtlicher Errungenschaften.
Dass es der CGIL seit 2002 nicht gelungen war, eine ähnlich große Menschenmenge zu mobilisieren, offenbart die Niederlage der italienischen Linken. Damals galt der Protest der neoliberalen Deregulierung einer von Silvio Berlusconi geführten Mitte-Rechts-Regierung. Ein Jahrzehnt später sind nicht nur die in der damaligen Widerstandsbewegung gehegten Hoffnungen auf eine linke Regierung gründlich enttäuscht und die Arbeitsrechte kontinuierlich geschliffen worden, inzwischen ist selbst der sozialdemokratische Flügel des regierenden Partito Democratico (PD) zu einer zwar prominent besetzten, jedoch parteiintern einflusslosen Minderheit geschrumpft.

Renzi versteht sich aufgrund seiner persönlichen und politischen Biographie seit jeher als Mann der bürgerlichen Mitte. Als er vor fünf Jahren sein politisches Programm erstmals in der Leopolda, einem stillgelegten Bahnhof von Florenz, vorstellte, war klar, dass sein Ruf nach einer »Verschrottung« nicht nur der alten Parteielite galt, sondern auch den Gewerkschaften. In diesem Jahr geriet das jährliche Treffen in der Leopolda zur Gegenveranstaltung zu den Protesten in Rom. Seine Regierung werde sich von einer Demonstration nicht aufhalten lassen, versprach er seiner neuen Wählerbasis, darunter Unternehmer, Finanzmanager, politische Karrieristen, Jugendfreunde und Fans.
Seit der PD bei den Europawahlen im September mehr als 40 Prozent der Stimmen gewann, sieht Renzi seinen dezisionistischen Führungsstil legitimiert. Die parteiinterne Opposition verspottet er als Ewiggestrige: »An einer Gesetzesnorm von 1970 festzuhalten, ist so, als würde man ein iPhone in der Hand halten und nach dem Schlitz für die Telefonmünze suchen.«

Spekulationen, dass Renzi mit seiner Regierungspolitik eine Abspaltung der sozialdemokratischen Minderheit provozieren könnte, sind jedoch eher unbegründet. Sowohl den PD-Linken, die auf der Demonstration mitmarschierten, als auch der CGIL-Führung selbst fehlt die Glaubwürdigkeit, nachdem sie über ein Jahrzehnt die neoliberale Politik mitgetragen haben. Darüber hinaus sind im selben Zeitraum alle Versuche, gegen den Rechtsruck des PD eine linke Partei zu etablieren, gescheitert. Tatsächlich bekannten sich auf der Demonstration in Rom viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer, weder in einer Partei noch gewerkschaftlich organisiert zu sein. Trotz der traditionellen Choreographie des Protests setzen die wenigsten noch Hoffnungen in die traditionellen Repräsentationsformen.
Vielmehr soll durch eine starke außerparlamentarische Bewegung politischer Druck ausgeübt werden. Unter den Hashtags #14N und #21N wird in verschiedenen Städten bereits zu sozialen Streiks aufgerufen. Allerdings zeigte sich vergangene Woche, als eine Demonstration der linken Metallgewerkschaft FIOM von der Polizei mit Knüppeln angegriffen und vier Arbeiter niedergeschlagen wurden, dass die Regierung bereit ist, eine Ausweitung der Proteste auch mit Gewalt zurückzudrängen.
Außerdem mobilisieren in der aufgeheizten Stimmung nicht nur linke Gruppen: Insbesondere die Lega Nord, die sich neuerdings als nationale Rechtspartei im Stile Le Pens zu profilieren sucht, versteht es, die Wut der Massen für ihre ausländerfeindlichen Kampagnen zu nutzen.