Die Mauer steht

Ein Mediencoup gelang der Künstlergruppe »Zentrum für Politische Schönheit« vor dem Mauerfall-Jubiläum. Sie entwendete am Berliner Reichstagsufer die weißen Kreuze, die dort an deutsche Mauertote erinnern, um sie vorübergehend zu den Menschen zu bringen, die heute an den europäischen Grenzen ihr Leben riskieren und verlieren. Für ein paar Tage gelang es, die Hohlheit des wohlfeilen Gedenkens an den Fall der DDR-Mauer zu konterkarieren. Ein scharfer Einspruch kam von Bazon Brock, der im Deutschlandradio den Begriff der »politischen Schönheit« auf Leni Riefenstahl zurückführte. Es sei eine »Schweinerei, dass auf dem Rücken von 48 Millionen Weltflüchtlingen ein paar Ästhetiker ihre Süppchen kochen«. Unbeeindruckt von dieser Kritik kamen etwa 200 Personen am 7. November zum Maxim-Gorki-Theater, um zwei Busse voller »friedlicher Revolutionäre« zu verabschieden, die – per Crowdfunding finanziert – an die europäische Grenze fahren wollten, um diese zu Fall zu bringen. Der Musiker Daniel Kahn sang auf jiddisch, russisch und in anderen Sprachen Lieder über das Elend der Welt. Ein Syrer berichtete, wie er vor drei Jahren unter Lebensgefahr, versteckt im Radkasten eines fahrenden LKW, die europäische Grenze überwand. Von der Eingangstreppe des Theaters bis zu den Bussen war für die neuen »Mauerhelden« ein roter Teppich ausgelegt, an dessen Ende zahlreiche Polizisten warteten, um das Gepäck zu durchsuchen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass nun Schluss mit lustig war. In Bulgarien und Griechenland zeigte sich das europäische Grenzregime gut vorbereitet und verhinderte ein Durchkommen zur Grenze. Mangels spektakulärer Bilder war am 9. November in den Medien kein Stich gegen die offiziösen Feierlichkeiten mehr möglich. Womit es der Aktion des Zentrums für politische Schönheit ähnlich erging wie den Gedenkveranstaltungen anlässlich des 76. Jahrestags der Reichspogromnacht am 9. November 1938.