Die Nutzung von PKW-Maut-Daten für die Strafverfolgung

Wohin die Reise geht

Die von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) geplante PKW-Maut sieht die elektronische Erfassung von Autokennzeichen vor. Das Bundeskriminalamt will diese Daten für die Strafverfolgung nutzen.

So war das damals im Unrechtsstaat. Verschmitzt lächelnd beantwortet der Verkehrspolizist die Frage eines West-Reisenden auf der Transitautobahn, was denn geschähe, überwiese er nicht die geforderten 200 D-Mark Strafe wegen Überschreitung der obligaten 100-km/h-Geschwindig­keits­- ­begrenzung, in breitem Sächsisch oder Thüringisch: »Dann müssense eben beim nächsten Mal fliechen.« Wenn also bis zum Fälligkeitsdatum die Knete nicht auf dem Konto der Staatsbank der DDR eingetroffen wäre, würden die erhobenen Daten des Reisenden zu seinem Ausschluss von der Nutzung volkseigener Autobahnen führen, hieß das.
Im Unrechtsstaat hatte bekanntlich derselbe überall seine ideologischen Finger drin, im Rechtsstaat hingegen wird so manches privater Initiative überantwortet. Und das geht auch: »Kleine Kästchen und Kameras sind in die Schranken am Ein- und Ausgang eingebaut«, skizziert die Süddeutsche Zeitung das sichtbare Überwachungs-Equipment einer deutschen Campingplatzkette. Die Zeitung zitiert eine Hamburger Mitarbeiterin, die sich zu den weniger sichtbaren, möglichen Folgen des praktizierten Fotografierens von PKW-Kennzeichen äußert: »Wenn einer nicht bezahlen möchte, dann nehmen wir einfach ein Häkchen raus im System, dann kommen Sie weder rein noch raus.« Die Gesamtheit der in Kooperation von Mensch und Maschine erhobenen Camping-Daten kann durchaus so etwas wie ein »Bewegungsprofil« ergeben. Die zitierte Hamburgerin findet es naheliegend, dies den Münchener Journalisten anhand einer Nord-Süd-Strecke zu beschreiben: »Wenn Sie jetzt zum Beispiel nach Nürnberg zum Campingplatz fahren und Ihren Namen sagen, dann finden die Kollegen dort die Daten, die Sie mir gegeben haben, sofort wieder.«

Das Dilemma des Unrechtsstaats bestand in seiner tollpatschigen Selbstdenunziation als Egoist; angesichts einer als naturwüchsig begriffenen Selbstsorge seiner Untertanen vermochte er nie ideologisch begründetes Partikularinteresse zu verhehlen. Der Rechtsstaat hingegen bezieht Gelassenheit aus dem Wissen, dass demokratische Untertanen, also Staatsbürger, ihrem Souverän an Niedertracht gegenüber Konkurrenten in nichts nachstehen. Den Rechtsstaat befähigt solches Wissen, die Konkurrenz der Staatsbürger um die allgemeine Geldform kapitalistischen Reichtums als sozial nützlich zu verstehen und innerhalb gesetzlich definierter Grenzen zu fördern. Solange Staatsbürger ihr Konkurrenzstreben horizontal – gegen konkurrierende Mitstaatsbürger – und nicht vertikal – gegen bestehende Institutionen und Gesetze – realisieren, dürfen sie einander bespitzeln und überwachen sowie die dafür notwendige Ausrüstung erwerben. Zum Beispiel Technik zur Erfassung und Systematisierung von PKW-Kennzeichen: »An Parkhäusern, Campingplätzen und Waschanlagen filmen Kameras Nummernschilder ein- und ausfahrender Autos und gleichen sie mit Datenbanken ab. Nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung und NDR wird die sogenannte Kennzeichenerfassung an Hunderten Zufahrten in Deutschland eingesetzt.«
Die zitierten Recherchen fanden auch unternehmerische Kreativität bei der Anwendung von Erkennungssoft- und Hardware, zum Beispiel: »Wer auf einer ›Whitelist‹ steht, dem öffnen sich die Schranken, eine ›Blacklist‹ verwehrt Fahrzeugen mit bestimmten Kennzeichen die Zufahrt.« Hier könnte man den eingangs erwähnten DDR-Verkehrspolizisten imaginieren, wie er auf Sächsisch oder Thüringisch durch die Zeiten ruft: »Schönen Gruß vom Unrechtsstaat!« Freilich wird man durch die Lektüre des Berichts der Süddeutschen Zeitung schnell auf den Boden des Rechtsstaats zurückgerufen, wenn solcherlei Kategorisierung als durchaus »sinnvoll« für die Geschäfte von Mietwagenfirmen und ebenso »für Speditionen, die so ihren Fuhrpark besser koordinieren können«, bezeichnet wird. Koordination ist überhaupt ein schöner Begriff für das, was man früher als Selektion, als Praxis von Ein- und Ausschluss bezeichnet hätte. Nur notorische Miesmacher reden hier von Euphemismus.
So optimistisch wie die zufriedenen Anwender dürften wohl auch Hersteller und Verkäufer der zum Einsatz kommenden Geräte sein. Der Bericht der Süddeutschen erwähnt eine Herstellerfirma von Erfassungstechnik, die stolz darauf ist, allein im laufenden Jahr bereits etwa 200 Parkhäuser und -plätze mit entsprechenden Systemen versorgt zu haben. Diese leuchten mittels Infrarotlicht die Nummernschilder aus, dann »erkennt« eine Software den Code und gleicht ihn mit einer Datenbank ab, in der erwünschte und unerwünschte Kennzeichen gespeichert sind.
Die Werbung solcher Anbieter gibt sich verheißungsvoll und nicht zufällig steht dort oft, wie im folgenden Beispiel, der erwartbare Nutzen »Erkennungsrate mindestens 95 Prozent« vor dem voraussichtlichen Aufwand »Erkennungsdauer eine bis neun Sekunden«. Den auf diese Weise zu Erkennenden gewährt der Rechtsstaat die Möglichkeit der Weigerung. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, die Überwachung zuvor mitzuteilen, etwa: »Mit der Nutzung dieser Anlage erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihre personenbezogenen Daten erhoben, gespeichert und gegebenenfalls verarbeitet sowie Dritten zugänglich gemacht werden können.« Im Alltag sind solche Mitteilungen zumeist hemdsärmeliger formuliert und die üblicherweise dauergestressten Zeitgenossen akzeptieren sie, schon weil bei der nächsten Gelegenheit ähnliche Hinweise mit gleichem Inhalt warten.

Trotz aller unternehmerischer Privatinitiative der Staatsbürger bleibt auch im Rechtsstaat der Polizei eine besondere Rolle in einem sozialen Geschehen vorbehalten, für das der Straßenverkehr, weit über die metaphorische Ebene hinaus, als hinreichendes Sinnbild gelten kann. So konnte beispielsweise die Polizei des Bundeslandes Bayern mit der Erfolgsmeldung aufwarten, monatlich etwa acht Millionen Nummernschilder mit stationären und mobilen Kameras erfasst und »abgeglichen« zu haben. Gegen diese Praxis legten im vergangenen Jahr »Datenschützer« (eine informelle Berufsgruppe, der vom Rechtsstaat Wohlwollen, aber keine Durchsetzungsfähigkeit eingeräumt wird) vor dem zuständigen Bundesverwaltungsgericht in Leipzig eine Beschwerde ein. Diese wurde vor einigen Wochen zurückgewiesen, weil nicht erkennbar sei, dass die bayerische Polizei die Daten zu anderen Zwecken als denen der Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit und Ordnung verwende.
Besonnene Kritiker des deutschen Unrechtsstaats, der am diesjährigen 9. November noch einmal spektakulär mit Licht- und Pop-Zeremonien zu Grabe getragen wurde, verweisen bereits seit einem Vierteljahrhundert auf dessen erwiesene Unfähigkeit, seinerzeit die »digitale Revolution« mit vollziehen zu können. Wenig gehört, verstanden und akzeptiert, erhalten sie nun späte Rechtfertigung durch die geplante Einführung der sogenannten PKW-Maut des deutschen Verkehrministers Alexander Dobrindt (CSU). Der fiskalische Raubzug des Rechtsstaats soll durch elektronische Erfassung von KFZ-Kennzeichen erfolgen, in der Auswertung sollen wie bei der »negativen Rasterfahndung« (Jungle World 44/2014) erst einmal Inländer von Ausländern geschieden und letztere zur Kasse gebeten werden.
Erst einmal – das wird sich zumindest Jörg Ziercke, der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), gedacht haben. Erst einmal – denn bei den wahrscheinlich jährlich in riesiger Menge erfassten Daten ist für allerlei Interessenten auch Interessantes dabei. Der Unrechtsstaat mit seinen schlecht getarnten Vogelscheuchenkameras auf den Transit-Autobahnen – von vielen Reisenden leicht erkennbar – sieht da ziemlich blass aus.
Der Präsident des BKA gab sich zunächst bescheiden. »In besonderen Ausnahmefällen der Schwerstkriminalität«, gab er, scheinbar nachdenklich gestimmt, im Interview mit der Welt am Sonntag zu bedenken, »halte ich es für sinnvoll, wenn wir Mautdaten für Ermittlungen nutzen könnten«, um bald darauf entschiedenere Töne anzustimmen. Er sei sicher, »dass dies in bestimmten Fallkonstellationen zu einer schnelleren Täterermittlung führen würde«. Wer sollte dem widersprechen? Etwa der Verkehrsminister, der seinen Gesetzentwurf als »die härteste Datenschutzvorschrift in Deutschland, die wir kennen«, gegenüber der Süddeutschen Zeitung rechtfertigt? Oder der schleswig-holsteinische Verkehrsminister Reinhard Lange (SPD) mit seinem Menetekel: »Wenn die Daten nicht nur zur Abrechnung der Maut genutzt werden, werden das Autofahrer wohl kaum akzeptieren.« Wo leben wir denn? Der Rechtsstaat jedenfalls, samt seiner Anhänger und Mitläufer, hat sich entschieden.