Ehud Yaari erklärt im Gespräch, warum er keine Gefahr einer »dritten Intifada« sieht

»Die Intifada wird nicht vermisst«

Ehud Yaari ist Experte für israelisch-arabische Beziehungen und International Fellow des Washington Institute for Near East Policy. Der preisgekrönte Journalist veröffentlicht seit Jahrzehnten in internatio­nalen Medien und hat zahlreiche Bücher über den Nahen Osten verfasst.

Erleben wir gerade den Beginn einer »dritten Intifada«?
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht am Beginn einer neuen Intifada stehen. Es wird leicht vergessen, dass die beiden bisherigen Intifadas Ende der achtziger Jahre und ab Ende des Jahres 2000 organisiert waren, auch wenn die erste Intifada als eine Art Eruption aus der Bevölkerung begann. Während der ersten Intifada gab es eine Koalition aller palästinensischen Fraktionen, die sehr schnell eine einheitliche Führung etabliert und die Gewalt koordiniert hat. Die zweite Intifada wurde von Beginn an von Yassir Arafat orchestriert. Sie wurde von Fatah Tanzim, der Jugendorganisation der Fatah, geführt und in einer Art unerklärten Allianz durch die Hamas unter anderem mit Selbstmordattentätern unterstützt.
Derzeit sehe ich dagegen keine Organisation hinter der sporadischen Gewalt, ich glaube und habe Belege dafür, dass die Fatah keine dritte Intifada will. Die Hamas ist in der Westbank und in Ost-Jerusalem sehr schwach und zerrissen, ist also auch nicht in der Lage, einen breiten Aufstand zu organisieren. Es gab in den vergangenen drei Monaten individuelle Terrorakte, es gab in den arabischen Teilen Ost-Jerusalems unzufriedene Jugendliche, die Steine geworfen haben, aber die Mehrheit der Bevölkerung hat keinerlei Interesse an einer neuen Runde der Gewalt gegen Israel.
Was vielen nicht bewusst ist: Die große Mehrheit der Palästinenser sieht die zweite Intifada als großes Debakel, als Fehlschlag, der die israelische Armee und Sicherheitsdienste zurück in die Städte der Westbank gebracht und zur Errichtung der Mauer geführt hat. Die Intifada wird in keiner Weise vermisst.
Benjamin Netanyahu hat Mahmoud Abbas nach den letzten Attentaten vorgeworfen, die Palästinenser zu Terror aufgehetzt zu haben. Vertreter der israelischen Geheimdienste haben ihm daraufhin öffentlich widersprochen. Wer hat recht?
Netanyahu hat recht, wenn er Abbas Aufhetzung vorwirft. Mitglieder der Fatah-Führung feierten etwa die Terroristen, die das Massaker in der Synagoge anrichteten, und Abbas tut nichts dagegen. Darüber hinaus beschuldigte Abbas Israel kürzlich, den Status quo auf dem Tempelberg rund um die al-Aqsa-Mosche verändern zu wollen, was nicht der Wahrheit entspricht. Er spricht über Juden, die den Tempelberg besuchen, auf abstoßende Weise. Aber anders als Yassir Arafat ist er nicht an Terroraktivitäten beteiligt. Es gibt keinen wirklichen Widerspruch zwischen dem, was Yoram Cohen, der Leiter des Shin Bet, vor dem Parlament sagte – nämlich dass Abbas nicht an terroristischen Aktivitäten beteiligt sei –, und Netanyahus Vorwürfen, Abbas erlaube seinem Umfeld erlauben, auf sehr hässliche Weise gegen Juden zu hetzen.
Wie verhält sich die Hamas gegenüber der letzten individuellen Attacken?
Die Hamas versucht, die Gewalt in der Westbank anzuheizen, aber nicht im Gaza-Streifen. Es gibt tägliche Aufrufe der Hamas-Führung und der Hamas-Medien zu »Tagen des Zorns«, zu Demonstrationen, zu Angriffen mit Molotow-Cocktails oder zu Selbstmordattentaten. Sie sind sehr daran interessiert, dass es zu Konfrontationen in der Westbank und Ost-Jerusalem kommt. Bezüglich des Gaza-Streifens sieht ihre Rechnung anders aus, da die Hamas bei der letzten Konfrontation so große Verluste erlitt und nun eher ein Arrangement anstrebt, bei dem Abbas die Regierung und den Wiederaufbau im Gaza-Streifen übernimmt. Aber Abbas hat kein Bedürfnis, als Dienstleister der Hamas in Gaza die Arbeit zu übernehmen, während die Hamas eine eigene Armee, ein eigenes Budget und eine eigene Politik betreibt. Die Hamas droht nun, den Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen wieder aufzunehmen, wenn der Wiederaufbau nicht bald beginnt. Das ist für mich allerdings derzeit eher Rhetorik als eine echte Option.
Wird die Hamas versuchen, selbst Attentate in der Westbank und in Ost-Jerusalem zu organisieren?
Absolut, aber seit der zweiten Intifada und der israelischen »Operation Verteidigungschild« im Jahr 2002 hat der israelische Sicherheitsapparat es geschafft, die Produktionslinie für Selbstmordattentäter in der Westbank zu unterbrechen. Die Netzwerke der Hamas und des Islamischen Jihads wurden zerstört. Die Hamas ist in der Westbank paralysiert, da sie vom PA-Sicherheitsapparat daran gehindert wird, ihre militärische Infrastruktur wieder aufzubauen. Die Hamas hat dort vielleicht einzelne Zellen, aber keine Organisationsstruktur. Dafür hat die Hamas in der Türkei ein Westbank-Kommando aufgebaut, mit vollem Wissen der türkischen Regierung. Es wird von Sheikh Saleh al-Arouri angeführt, der auch Mitglied des Hamas-Zentralkomitees ist. Sie versuchen, Geld in die Westbank zu leiten und sich dort zu organisieren, bislang aber ohne großen Erfolg.
Versucht die türkische Regierung, den Konflikt anzuheizen?
Was ich sage, ist, dass die türkische Regierung volles Wissen über al-Arouri und andere Hamas-Mitglieder in der Türkei hat. Diese können dort frei operieren und Aktivitäten in der Westbank orchestrieren. Aber um präzise zu sein, will die türkische Regierung nicht, dass Terror direkt aus der Türkei organisiert wird. Die Aktivitäten werden dann via Gaza und nicht direkt aus der Türkei koordiniert. Das macht aber keinen großen Unterschied.
Ein weiterer internationaler Akteur ist die Islamische Republik Iran, die einigen Berichten zufolge mit der PFLP zusammenarbeitet, die wiederum den jüngsten Anschlag in der Jerusalemer Synagoge für sich in Anspruch nahm. Wird die PFLP wieder eine bedeutende Kraft?
Nein, da will ich gerne deutlich werden: Die PFLP ist eine Organisation, die keine junge Generation und keine Kaderstruktur hat. Sie ist eine Organisation im Ruhestand. Sie haben die Verantwortung für das Massaker in der Synagoge übernommen, obwohl die beiden Täter bekanntermaßen Kleinkriminelle ohne vorherige Kontakte zur PFLP oder irgendeiner anderen Organisation waren. Bezüglich des Iran sehen wir, dass zumindest ein Flügel der Hamas nach dem Sturz von Präsident Mursi in Ägypten und dem allgemeinen Niedergang der Muslimbruderschaft in der arabischen Welt versucht, die enge Verbindung zum Iran und der Hizbollah wiederherzustellen. Zuvor hatte Hamas auf die Muslimbruderschaft und die Opposition gegen Assad in Syrien gesetzt. Teile der Hamas hoffen so, vom Iran mit Waffen versorgt zu werden, aber da gibt es große praktische Schwierigkeiten, da Ägypten und Israel den Gaza-Streifen sehr genau überwachen.
Nochmal zu Israel: Sehen Sie die Gefahr eines Bürgerkrieges, wenn sich immer mehr arabische und jüdische Israelis bewaffnen?
Nein, ein solches Szenario sehe ich nicht. Die Gewaltausbrüche werden bald aufhören. Man darf nicht vergessen, dass die gut eine Million israelische Araber einen Prozess der »Israelisierung« durchgemacht haben. Sie sprechen alle hebräisch und es gibt viele Vorteile, die man als israelischer Bürger im Vergleich zu den Palästinensern in der Westbank oder Gaza hat. Neben dieser »Israelisierung« gibt es aber auch ein sehr klares Bewusstsein dafür, palästinensisch zu sein. Das passt nicht gut zusammen und sie sind in einer Situation hin- und hergerissen, in der sehr oft ihr Staat, also Israel, ihre palästinensische Nation bekämpft. Aber letztlich sehe ich, dass die große Mehrheit der israelischen Araber ihre Privilegien im israelischen Staat schätzt. Ich bin immer dafür eingetreten, dass die israelischen Regierungen offener sind, wenn es um die Integration der israelisch-arabischen Bürger geht, auch bei Staatsämtern und in der Armee. Dort melden sich immer mehr israelische Araber als Freiwillige.
Sehen Sie noch die Möglichkeit einer Lösung des Konflikts in den kommenden Jahren?
Ich würde mir das wünschen, aber leider ist es nicht so. Es ist klar, dass die palästinensische Führung nicht bereit ist, die notwendigen Konzessionen zu machen, die zu einer dauerhaften Lösung führen würden. Es ist kein Zufall, dass Abbas die von US-Außenminister John Kerry präsentierten Umrisse einer Lösung ablehnte. Abbas ist nicht der Mann, der die Forderung nach der Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge nach Israel aufgeben wird, und die kann Israel nicht akzeptieren. Ich trete für eine Übereinkunft ein, die weniger als eine umfassende Lösung aller Fragen, also weniger als ein Friedensabkommen ist. Man könnte sich einen palästinensischen Staat, der auf vielleicht 85 Prozent der Westbank und in Gaza errichtet wird, mit arabischen Teilen Jerusalems, vorstellen, und im Gegenzug gibt es Sicherheitsarrangements sowie weitere Verhandlungen über die noch offenen Fragen, etwa die der endgültigen Grenzen. Das ist im israelischen Interesse und sollte eine israelische Initiative sein. Wenn es in ein oder zwei Jahren keinen palästinensischen Staat gibt, wird die Zwei-Staaten-Lösung keine Option mehr sein. Ich erinnere mich daran, dass Arafat mir in einem privaten Gespräch sagte, dass er einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 als einen souveränen Käfig betrachten würde. Es gibt auf palästinensischer Seite kein Verlangen nach solch einem Staat, und wenn wir nicht schnell handeln, werden sie das auch offiziell so sagen.