Die Proteste in Ferguson und die Debatte über Rassismus und Polizeigewalt

Unruhen statt Anklage

Der Polizist, der im August den unbewaffneten Michael Brown in Ferguson erschossen hat, wird nicht angeklagt. Auf diese Entscheidung folgten in den USA erneut Proteste.

Sein Freund Dorian Johnson nannte Michael Brown wegen seiner Körpergröße nur »Big Mike«. Darren Wilson, der Polizist, der Brown am 9. August mit sechs Schüssen niedergestreckt hatte, verglich ihn in seiner Zeugenaussage mit dem ehemaligen Profi-Wrestler Hulk Hogan und gab an, er sei sich in dessen Gegenwart wie ein verängstigter Fünfjähriger vorgekommen. Dabei ist er nur unwesentlich kleiner als der 1,93 Meter große Brown. Wie ein »Dämon« habe Brown auf ihn gewirkt. Wilsons Wortwahl war vermutlich gut überlegt, denn es ist davon auszugehen, dass er eine Strategie verfolgte – um strafrechtlich nicht belangt zu werden, musste er die Geschworenen davon überzeugen, dass Brown, obwohl unbewaffnet, eine Gefahr darstellte. Nicht nur für ihn, sondern auch für Unbeteiligte. Nur so wären seine Todesschüsse zu rechtfertigen.
Wilson hatte leichtes Spiel. Der leitende Staatsanwalt, Robert McCulloch, schien seine eigent­liche Aufgabe, nämlich die Interessen der Familie des Opfers zu vertreten, missverstanden zu haben. Stattdessen trat er als Repräsentant der Exekutive auf. Dabei, so lautet ein Bonmot unter Anwälten in den USA, könne ein guter Staatsanwalt selbst gegen ein Schinkenbrötchen eine Anklage erwirken. Aber nicht gegen einen Polizisten. Das Wall Street Journal berichtet, in den vergangenen sieben Jahren seien nur 41 angeklagte Polizisten von einer Grand Jury, dem Geschworenengericht, tatsächlich belastet worden – aus Tausenden von Fällen. Viel zu freundschaftlich ist meist das Verhältnis zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft.

Im Gegensatz zu einer normalen Jury muss die Entscheidung bei der Grand Jury nicht einstimmig ausfallen, es reichen neun von zwölf Stimmen, um eine »Empfehlung« zu erwirken. Die Geschworenen der Grand Jury befinden nicht über Schuld oder Unschuld, sondern empfehlen lediglich, ob ein Gerichtsprozess notwendig ist, meist bei Fällen, die mit polizeilichen Übergriffen zu tun haben. Die Mitglieder der Jury sind nicht, wie üblich, für nur einen einzelnen Fall berufen, sondern dienen für eine vorgeschriebene Amtszeit, in der Regel ein Jahr. Sie sind auch von vielen der Vorgaben normaler Jurys entbunden. Ronald Sullivan Jr., der Vorsitzende des Harvard Criminal Justice Institute, sprach in einem Interview mit der Los Angeles Times von einem »strategischen Schachzug. Der Staatsanwalt bekam das Resultat, das er wollte, ohne dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen.«
Am 24. November gaben die zwölf Mitglieder der Grand Jury in St. Louis ihr Urteil bekannt: Sie empfahlen, Wilson nicht anzuklagen. Weder wegen Mordes ersten oder zweiten Grads, noch wegen Totschlags. Wieder einmal sind die USA gespalten. Für die einen ist Michael Brown ein Opfer der staatlichen Willkür und des institutionellen Rassismus. Für die anderen ist Darren Wilson ein Mann, der von einem riesigen schwarzen »Rowdy« bedroht wurde und aus Notwehr gehandelt hat. Nachdem das Urteil bekannt gegeben worden war, kam es in vielen Städten, nicht nur in Ferguson, zu Unruhen und Krawallen. Es entlädt sich eine gewaltige Wut, in 170 Städten wurde der Verkehrt lahmgelegt, in Missouri brannten Geschäfte. Brown ist schließlich nicht das erste Opfer. Der jüngste Fall ist Tamir Rice, der am 22. November in Cleveland von der Polizei erschossen wurde, als er mit einer Spielzeugpistole herumfuchtelte. Er war erst zwölf Jahre alt.
Der Think Tank »Urban Institute« gab bekannt, dass in Mordfällen mit einem weißen Täter und einem schwarzen Opfer der Täter zehnmal so oft freigesprochen wird wie im umgekehrten Fall. Das Justizministerium der USA gab in einem Bericht von 2001 an, dass zwischen 1976 und 1988 weiße Polizeibeamte schwarze Verdächtige fünfmal so oft erschossen wie weiße Verdächtige. Gerade in konservativen Medien wird eine nahezu irrationale Angst vor dem schwarzen Mob, der die Städte plündert, heraufbeschworen, man rührt hier an offensichtlich tiefsitzende Ressen­timents. Die Aussage Wilsons spielte auf dieselben Vorurteile an, seine Beschreibung ist gespickt mit latent rassistischen Begriffen wie eben »Dämon«. Schwarze und Weiße, Konservative und Progressive, alle interpretieren den Tod von »Big Mike« auf eine Weise, die für sie dienlich ist und ihrem jeweiligen Weltbild entspricht. Dabei passt der tödliche Zwischenfall in gar kein Schema. Kurz vor den Todesschüssen hatte Brown mit seinem Freund Johnson einen Gemischtwarenladen überfallen und Zigarren geklaut, aus denen sie Joints drehen wollten; für viele ist das Grund genug, ihn als Bedrohung zu sehen. Doch immerhin war er unbewaffnet.

Bis heute ist nicht klar, was sich genau abgespielt hat. Die Zeugenaussage Johnsons widerspricht der Aussage Wilsons, auch die anderen Zeugen sind sich über wesentliche Details uneins. So viel ist klar: Brown und Johnson gingen nach ihrem Ladendiebstahl auf der Straße in Richtung ihres Hauses. Wilson fuhr im Streifenwagen heran und forderte sie auf, den Bürgersteig zu benutzen. Wilson gab vor der Grand Jury zu Protokoll, sehr höflich gewesen zu sein, Johnson hingegen behauptete, er habe sie beschimpft. Bürgerrechtler halten bereits die Tatsache, dass Wilson aus dem Auto zu Brown und Johnson sprach, für einen Fehler: Drive-by policing nennt man das, das Vertrauen ihrer Mitbürger sichern sich Polizisten dadurch nicht gerade. Es kam zu einem Handgemenge an der Wagentür. Wilson habe zur Waffe gegriffen und zwei Schüsse abgegeben, Brown sei daraufhin geflohen und Johnson habe sich hinter einem geparkten Wagen geduckt. Dann wird es unklar. Die meisten der Zeugen behaupten, Wilson habe auf den fliehenden Brown geschossen. Dieser habe sich umgedreht, um sich zu ergeben, sich sogar hingekniet und sei daraufhin von Wilson mit sechs Kugeln niedergestreckt worden. Doch Wilson und der anonyme »Zeuge Nummer 10« gaben an, Brown sei nach ein paar Metern Flucht auf den Beamten zugerannt, vermutlich mit dem Ziel, diesen anzugreifen oder an dessen Waffe zu gelangen. Der Pathologiebericht scheint Wilsons Aussage zu bestätigen, denn eine der Einschusswunden an Browns Hand deutet nicht darauf hin, dass die Hand in einer Geste der Kapitulation nach oben gehalten wurde. Aber zwei Kugeln trafen Brown von oben in den Kopf, eine in die Stirn, eine ins rechte Auge. Hat er also doch gekniet? Die Befunde der Pathologie reichen nicht für ein eindeu­tiges Urteil.

Bemerkenswert ist, dass Wilson kein nennenswertes Kreuzverhör erdulden musste. Es entschied allein der Staatsanwalt, welche Zeugen vor der Grand Jury aussagen durften. Es kamen zu keiner Zeit Fragen, die die Aussage des Angeklagten in Zweifel gezogen hätten. Die wohl wichtigste Frage wurde dabei nicht einmal angesprochen: Darren Wilson hat insgesamt zwölf Mal geschossen. Er hätte etwa auch zum Schlagstock oder zum Pfefferspray greifen können. War es wirklich notwendig – auch bei Todesangst –, ein ganzes Magazin auf den Unbewaffneten zu entleeren? Hier stimmt etwas nicht, so viel ist klar.
Solche Missstände könnten an den Wahlurnen gelöst werden, immerhin muss in den USA auch ein Staatsanwalt ins Amt gewählt werden. Der Volkszählung 2010 zufolge machen in St. Louis County Afroamerikaner 23,3 Prozent der Bevölkerung aus – würde die Mehrheit von ihnen an Wahlen teilnehmen, wäre es für Kandidaten wie McCulloch viel schwieriger, im Amt zu bleiben. Doch bei den letzten Kongresswahlen gingen nur zehn Prozent der Afroamerikaner wählen. An diesem Punkt könnte eine ernstzunehmende Bürgerrechtsbewegung ansetzen. Es ist nicht abzustreiten, dass das Rechtssystem befangen ist, aber mit Protesten ist es nicht getan. Für eine Reform des Systems der Grand Jurys sind öffentlicher Druck und die Beteiligung mündiger Wählerinnen und Wähler gefragt.