Der Einfluss der Nationalreligiösen in Israel

Ab durch die Mitte

In Israel wird über die Situation auf dem Tempelberg und das Nationalstaatsgesetz diskutiert. Vertreter nationalreligiöser Gruppen versuchen, für ihre Positionen in der gesellschaftlichen Mitte zu werben.

Wer sich an einem Freitagmittag gegen zwölf Uhr dem Strom der muslimischen Gläubigen anschließt, die sich durch die engen Gassen der Jerusalemer Altstadt in Richtung al-Aqsa-Moschee schieben, hat gute Chancen, Zeuge einer überraschenden Szene zu werden. In den Altstadtgassen stehen israelische Polizisten, die ihre Blicke über den vorbeiziehenden Menschenstrom schweifen lassen. Es kommt vor, dass sie Menschen, die äußerlich aus der Menge der ausschließlich männlichen Palästinenser hervorstechen, ein kurzes arabisches »Keif Halak?« zurufen – »Wie geht’s?«. Der Auftrag der israelischen Polizisten ist jedoch weniger, das Befinden ausländischer Besucher auf Arabisch zu erfragen. Es geht darum, Nichtmuslime daran zu hindern, das Areal der al-Aqsa-Moschee zu betreten. Durch diesen kurzen Sprachtest versuchen die Polizisten Ausländer, die sich in den Strom der muslimischen Gläubigen verirrt haben, herauszufiltern.
Für Touristen, aber auch für jüdische Israelis, ist die große Freifläche, auf der sich die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom befinden, nur an bestimmten Tagen und nur durch ein einziges Tor zugänglich. Die Regelung geht auf ein Gesetz der israelischen Regierung aus den späten sechziger Jahren zurück, das nichtmuslimische Gebete auf dem Plateau um die al-Aqsa-Moschee und den Felsendom verbietet.
Doch das Areal gilt nicht nur als drittwichtigste heilige Stätte im sunnitischen Islam – auch für religiöse Juden hat der Ort einen heiligen Charakter zu. Im Arabischen wird das Areal Haram-al-Sharif (»Das edle Heiligtum«) genannt, im Hebräischen Har Habait (»Der Hügel des Hauses«). Der hebräische Name nimmt Bezug auf den zweiten jüdischen Tempel, der hier bis zu dessen Zerstörung im Jahr 70 gestanden haben soll. Die Klagemauer am Fuße des Plateaus gilt als letztes Relikt des zerstörten Tempels.
Wer die Kontrolle über das Areal ausübt, gilt als eine der heikelsten Fragen im israelisch-palästinensischen Konflikt. Im Sechs-Tage-Krieg von 1967 eroberte Israel zwar die Jerusalemer Altstadt, doch an einer Kontrolle der muslimischen Heiligtümer war die damalige israelische Regierung nicht interessiert.
Die Kontrolle über die heiligen Stätten blieb in den Händen der Waqf, einer muslimischen Verwaltungsorganisation, die das Areal seit dem Mittelalter verwaltet. Auch die formelle Oberhoheit, die das jordanische Könighauses seit dem Krieg von 1948/1949 über die heiligen Stätten ausübte, stellte die damalige israelische Regierung unter Ministerpräsident Levi Eshkol nicht in Frage. Zu problematisch erschien ihr die Übernahme des Areals, das nach Mekka und Medina als wichtigste heilige Stätte im sunnitischen Islam gilt. Auch ideologisch hatte für die damalige Generation säkularer Zionisten, die Israel regierten, eine jüdische Kontrolle des Tempelbergs keine große Bedeutung.

Das sieht die neue Generation nationalreligiöser Aktivisten heute anders. Ende Oktober wurde der Rabbi Yehuda Glick von einem palästinensischen Attentäter niedergeschossen und schwer verletzt. Als Glick von den Kugeln getroffen wurde, hatte er gerade eine von ihm selbst initiierte Veranstaltung mit dem Titel »Israel kehrt auf den Tempelberg zurück« verlassen. Der in den USA geborene Yehuda Glick ist einer der prominentesten Aktivisten, die für eine israelische Kontrolle des Tempelberges eintreten.
Im Februar vorigen Jahres brachte der Likud-Politiker Moshe Feiglin das Thema vor die Knesset. Feiglin zählt zum nationalreligiösen Flügel des Likud und wurde selbst mehrere Male von der Polizei bei Gebetsbesuchen auf dem Tempelberg aufgegriffen. Der Titel der von Feiglin einberufenen-Sitzung lautete: »Der Verlust israelischer Souveränität über den Tempelberg.« Die Parlamentsmitglieder der arabischen Parteien boykottierten die Sitzung geschlossen. Politiker aus dem linken und zentristischen Lager betonten, dass eine Änderung des Status quo einem Spiel mit dem Feuer gleichkäme, falls sie nicht mit der palästinensischen Führung in Ramallah und der jordanischen Regierung koordiniert würde.
»Auf dem Tempelberg werden Fahnen der PLO, der Hamas und der islamistischen Bewegungen ohne Angst gehisst – doch was ist mit der israelischen Fahne? Für Juden kann das Rezitieren eines Psalms auf dem Tempelberg ein Grund zur Verhaftung sein. Selbst vom Tragen einer Kippa rät die Polizei ab«, sagte Feiglin.
Die Ausdehung der israelischen Kontrolle auf den Tempelberg wird vom harten Kern der nationalreligiösen Bewegung schon lange gefordert. Vereinzelt wird gar von der Wiedererrichtung des vor fast zwei Jahrtausenden zerstörten Tempels geträumt.
Eine radikale jüdische Untergrundgruppe wollte im Jahr 1984 schon einmal Vorarbeit dazu leisten und die al-Aqsa-Moschee und den Felsendom in die Luft sprengen. Der Sprengstoff dafür war schon besorgt, doch die israelische Polizei konnte den Plan noch rechtzeitig durchkreuzen.
Nationalreligiöse Aktivisten wie Yehuda Glick und Moshe Feiglin grenzen sich deutlich von der Untergrundgruppe von damals ab. Sie argumentieren dabei taktisch nicht unklug, indem sie die Absurditäten des gegenwärtigen Status quo hervorheben: Juden können die heilige Stätte während der Öffnungszeiten für Touristen zwar betreten, doch wer ein Gebet murmelt, kann von den anwesenden Sicherheitskräften festgenommen oder zum Verlassen des Geländes aufgefordert werden.
Die an der Regierung beteiligte nationalreligiöse Partei Habayit Hayahudi (Jüdisches Heim) von Wirtschaftsminister Naftali Bennett steht fast geschlossen hinter den Tempelberg-Aktivisten. Wohnungsbauminister Uri Ariel – der in seiner Funktion auch den Bau neuer Wohneinheiten in den Siedlungen maßgeblich vorantreibt – sprach davon, dass sich »der Status des Tempelberges bald ändern wird«. Das jordanische Königshaus, das sich für die heiligen Stätten verantwortlich fühlt, zog daraufhin im Oktober zeitweise seinen Botschafter aus Israel ab und drohte damit, den Friedensvertrag mit Israel zu kündigen, falls »die israelischen Verletzungen des status quo andauern sollten«.
Dennoch können sich die nationalreligiösen Aktivisten auch in Teilen von Benjamin Netanyahus Partei Likud der Unterstützung für ihre Ini­tiative sicher sein. »Unsere nationale Souveränität bleibt unvollständig ohne den Tempelberg«, erklärte der 1990 aus der Ukraine eingewanderte Abgeordnete Ze’ev Elkin. Desselben Arguments bedient sich der Likud-Politiker Yariv Levin: »Als Juden für eine Rückkehr nach Zion ­beteten, beteten sie nicht für eine Rückkehr nach Tel Aviv oder zur Knesset, sondern zum Tempelberg.«
Andere Teile der israelischen Gesellschaft werfen Politikern wie Ze’ev Elkin oder Yariv Levin vor, dem Zionismus ein nationalreligiöses Gesicht geben zu wollen, indem sie religiöse Stätten wie den Tempelberg zu nationalen Symbolen erheben. »Auch wenn die religiösen Juden der Diaspora für eine Rückkehr nach Jerusalem beteten, hat der Zionismus erst Gestalt angenommen, als Juden nach Israel kamen, um Städte wie Tel Aviv zu errichten«, sagt etwa der Journalist Tomer Persico.
Nir Hasoon zufolge, der für Haaretz schreibt, ist die nationalreligiöse Überhöhung des Tempelbergs ein jüngerer Trend zionistischer Geschichte: »Theodor Herzl war Haifa lieber als Jerusalem, und Moshe Dayan gab die Schlüssel zum Tempelberg an die Waqf ab. Die frühen zionistischen Führungspersönlichkeiten haben den Tempelberg bewusst außerhalb des nationalen Strebens um jüdische Selbstbestimmung gelassen.«

Auch aus religiöser Sicht hat der Tempelberg für die Mehrheit der jüdischen Gesellschaft in Israel nicht jene Bedeutung, die ihm die nationalreligiösen Politiker beimessen. Laut einer Umfrage der Schirmorganisation der Tempelberg-Initiativen sehen nur 29 Prozent der Befragten diesen als wichtigste religiöse Stätte des Judentums an. Für 66 Prozent nimmt die Klagemauer diese Position ein. Aus Sicht der meisten ultraorthodoxen Rabbiner ist der Tempelberg zwar überaus heiliges Terrain, doch gerade deswegen sollten jüdische Gläubige ihn nicht betreten – um keinen heiligen Boden zu entweihen.
Doch trotz dieser überwiegend ablehnenden Haltung in der jüdischen Gesellschaft Israels ist es den Nationalreligiöse gelungen, die Debatte ins Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses zu rücken. Auch mit anderen Initiativen gelingt es ihnen, in die gesellschaftliche Mitte vorzustoßen. Der Entwurf des »Nationalstaatsgesetzes«, das Netanyahu kurz vor Auflösung der Regierungskoalition seinem Kabinett vorlegte, stammt aus den Reihen von Habayit Hayahudi.

Der Entwurf sieht vor, »Israel zum Nationalstaat des jüdischen Volkes« zu erklären und jüdische Feiertage, den jüdischen Kalender, jüdisches Recht und jüdisches kulturelles und historisches Erbe zu schützen. Das ist für sich genommen kein Novum – schon die Unabhängigkeitserklärung von 1948 bekannte sich zu diesen Inhalten. Doch anders als in der Unabhängigkeitserklärung soll die Betonung der Gleichberechtigung aller Bürger im neuen Entwurf nicht mehr enthalten sein. Auch soll Arabisch seinen Status als zweite Amts­sprache des Landes verlieren. Kritiker des Entwurfes sehen deshalb in ihm nicht die Absicht, jüdische Kultur zu schützen, sondern die Diskriminierung der arabischen Minderheit zu institutionalisieren.
Ein Teil dieser Kritik trifft auch Netanyahu, der einen Entwurf der Rechtsaußen-Partei übernommen hat und diesen kaum verändert zur Abstimmung vorlegen will. Manche unterstellen dem Ministerpräsidenten ein wahltaktisches Manöver, um die politische Rechte vor den Neuwahlen am 17. März hinter sich zu sammeln. Andere politische Beobachter vermuten, dass Netanyahu den Nationalreligiösen inhaltlich ohnehin relativ nahe steht.
In den Augen seiner liberalen Kritiker spiegelt schon die Rhetorik Netanyahus und seine ständige Betonung der nationalen Bedeutung eines ungeteilten Jerusalems dies wider. Diese Kritiker fanden sich bestätigt, als der Ministerpräsident nach dem Anschlag auf die Bnei Kehilat-Synagoge im Westen Jerusalems Mitte November vom »Kampf um Jerusalem« sprach. Derlei Formulierungen zählen zum rhetorischen Standardrepertoire am rechten Rand.
Die Kritik am Nationalstaatsgesetz kommt dabei nicht nur aus dem linken und liberalen Teil der israelischen Gesellschaft. Auch Präsident Reuven Rivlin kritisierte das Gesetz als unnötig und gefährlich im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Juden und Arabern im Land. Einen Linkspolitiker kann man Rivlin kaum nennen: Er ist Likud-Mitglied und lehnt eine Zwei-Staaten-Lösung ab.
Auch wichtige Verantwortliche in Israels Sicherheitsapparat äußerten Kritik, vor allem an den Besuchen rechter Knesset-Mitglieder auf dem Tempelberg. Der Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Beth, Yoram Cohen, wies darauf hin, dass diese Besuche dazu beigetragen hätten, die Gewalt der vergangenen Wochen in Jerusalem zu schüren. Der Journalist und Autor Akiva Eldar sieht in den regelmäßigen Besuchen rechter Knesset-Mitglieder auf dem Tempelberg ein Symptom für den wachsenden Einfluss nationalreligiösen Gedankenguts innerhalb von Netanyahus Regierungspartei Likud. Er schreibt: »Die Prostitution von Religion im Dienste nationalistischer Interessen erreicht ihren Gipfel auf dem Tempelberg.«