Nach dem Schock. Die Debatte in Frankreich nach den Anschlägen

Französischer Jihad

Die Attentäter waren gebürtige Franzosen. In Frankreich hat die Debatte um die Ursachen und Folgen des Massakers gerade erst begonnen.

Die Mordaktion dauerte fünf Minuten, danach waren elf Menschen tot. Ein zwölfter, ein Polizeibeamter, wurde wenige Minuten später nach einem Schusswechsel getötet. Am Mittwoch vergangener Woche, eine halbe Stunde vor Mittag, wurde die Redaktion der für Satire und Karikaturen bekannten Wochenzeitung Charlie Hebdo im 11. Pariser Bezirk von zwei schwerbewaffneten und maskierten Attentätern angegriffen. Sie waren mit Kalaschnikows und Panzerfäusten ausgestattet und eröffneten das Feuer auf die zur wöchentlichen Sitzung versammelte Redaktion. Ein Teil konnte auf das Dach entkommen, einzelne Mitglieder überlebten unter Tischen versteckt.
Die politisch-ideologisch-kriminelle Karriere der Täter begann bereits vor zehn Jahren. Identifiziert wurden die beiden alsbald als die Brüder Chérif und Said Kouachi, 32 und 34 Jahre alt. Chérif Kouachi, der jüngere, aber ideologisch verhärtete Bruder, war im Jahr 2008 wegen als terroristisch eingestufter Straftaten zu drei Jahren Haft verurteilt worden.
Seit 2004 war er im 19. Pariser Bezirk in einer Zelle aktiv gewesen, die im Laufe des späteren Strafverfahrens als »die Seilschaft vom Viertel Buttes-Chaumont« bekannt wurde. Die Buttes-Chaumont sind ein Park im Nordosten von Paris, der im Zweiten Kaiserreich angelegt wurde. Der jüngere der beiden Brüder kam in Kontakt mit dem selbsternannten Prediger Farid Benyettou. Dieser besuchte zunächst die Moschee al-Dawaa im Stadtteil rund um die Métro-Station Stalingrad, machte sich aber später selbständig, nachdem er eine Schar von jungen Getreuen um sich gesammelt hatte, und predigte in Privatwohnungen und Arbeitslosenheimen. Der junge Salafist Benyettou – heute Aussteiger aus der Szene und Krankenpflegeschüler – stand wiederum über seinen Schwager Youcef Zemmouri im Kontakt mit Ablegern des extremistischen und bewaffneten Islamismus aus Algerien. Diese Gruppen begingen in den Jahren 1995/96 Attentate in Frankreich und versuchten, den Krieg aus Algerien in die frühere Kolonialmacht zu tragen.

Die Zelle funktionierte wie eine Sekte, die ihre Anhänger einer Art Gehirnwäsche unterzog, immer stärker den Rhythmus auch ihres Alltags­lebens prägte und sie zum Bruch mit Familie, Freunden und Partner veranlasste. Chérif Kouachi war bis dahin sozial und psychisch instabil. Der in Paris geborene und in Rennes als Waise aufgewachsene junge Mann interessierte sich zuvor eher für Kiffen, Trinken, Ausgehen und Mädchen. Aus seiner Sicht schien es ihm jedoch schwer, Lebensregeln und Grenzen zu finden. Offensichtlich ein autoritärer Charakter, schien ihm die neue Gruppe einen »Halt im Leben« zu verleihen. Gleichzeitig knüpfte das kleine Netzwerk aus einigen Dutzend Personen, das der Prediger Benyettou um sich aufbaute, immer bessere interna­tionale Kontakte. Es rekrutierte Aspiranten für den bewaffneten islamistischen Kampf im Irak.
Auch Chérif Kouachi wollte im Januar 2005 über Syrien in den Irak fliegen, wurde jedoch wenige Tage zuvor festgenommen. Die Gruppe wurde ausgehoben, Kouachi im Jahr 2008 zu drei Jahren Haft verurteilt, die Strafe war jedoch mit der Untersuchungshaft abgegolten. In der Haftanstalt war er in Kontakt mit anderen Jihadisten geraten, unter ihnen der ebenfalls algerischstämmige Djamel Beghal, der bereits im Jahr 2000 in Afghanistan gewesen war, und Amedy Coulibaly.
Coulibaly wurde vergangene Woche tätig, während die Polizei die Brüder Kouachi verfolgte. Am Donnerstag erschoss er eine Polizistin, am Freitag nahm er im jüdischen Supermarkt Hyper Cacher im Südosten von Paris mehrere Personen als Geiseln. Bei Gesprächen mit Fernsehsendern und der Polizei am Telefon stellte er unterschiedliche Forderungen: Mal verlangte er, Frankreich müsse »seine Soldaten aus allen islamischen Staaten abziehen«, und mal, die Polizei müsse »die Brüder Kouachi in Ruhe lassen«.

Die Geiselnahme wurde am Spätnachmittag des Freitag beendet, gleichzeitig die Flucht der Brüder Kouachi, die sich in einer Druckerei nordöstlich von Paris verschanzt hatten. Die Polizei erstürmte beide Orte. Wie aus dem Bekennervideo von Coulibaly sowie den Ansprachen der Brüder Kouachi an die angegriffene Redaktion von Charlie Hebdo hervorgeht, stellten die drei sich in den Kontext des internationalen bewaffneten Islamismus. Aber mit unterschiedlichen Referenzen: Die Brüder Kouachi sagten zu ihren Opfern, sie seien »von al-Qaida«, und die Mitarbeiter von Charlie Hebdo müssten nun »bezahlen«, weil ihre Zeitung durch Karikaturen »den Propheten beleidigt« habe. Hingegen behauptete Coulibaly, im Auftrag des Islamischen Staates in Syrien und im Irak zu handeln.
Hieß es zunächst, laut polizeilichen Informationen habe Chérif Kouachi Zeit seines Lebens das französische Staatsgebiet nie verlassen, gilt nun als wahrscheinlich, dass er und sein Bruder sich im Jahr 2011 im Jemen aufhielten und eine militärische Ausbildung bei der dort starken Gruppe »al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel« absolvierten. Mutmaßlich reiste Chérif Kouachi mit dem Pass einer anderen Person dorthin. Offensichtlich wurden also von einer autonom handelnden Zelle aus internationale Kontakte geknüpft, die über die Gräben der Konkurrenzkämpfe zwischen verschiedenen terroristischen Organisationen hinwegreichen.
Die Diskussion über die Ursachen hat noch kaum begonnen. Die rechtsextremen Strömungen in der französischen Gesellschaft, an die nun der Front National anzuknüpfen versucht, sprechen von einem »Ausländerproblem« und suchen die Schuld in der Anwesenheit von Muslimen auf französischem Boden. Das ist natürlich falsch, denn sowohl die beiden Brüder Kouachi als auch Coulibaly sind in Frankreich geboren, aufgewachsen und weitgehend Produkte der französischen Gesellschaft. Aber auch der Versuch, die Gründe vor allem in Diskriminierung und der Ghettosierung von Trabantenstädten zu suchen, greift in diesem Falle nicht. Zwar war Coulibaly ein Kind aus stark ghettosierten Vorstädten und wuchs in Grigny auf, einem echten sozialen Brennpunkt südlich von Paris. Auf die Brüder Kouachi trifft dies indes nicht zu. Sie stammen nicht aus einer Banlieue, Chérif Kouachi wurde im zentral gelegenen 10. Pariser Bezirk geboren und wuchs nicht in einer Trabantenstadt auf.

Auf den Demonstrationen wie denen vom Wochenende in Paris und ganz Frankreich, an denen insgesamt knapp vier Millionen Menschen teilgenommen haben sollen, überwog eine integrative Absicht: Das Bekenntnis zu freier Meinungsäußerung und zur Freiheit der Kunst, für das Charlie Hebdo nun zum Symbol geworden ist, aber auch zu Multikulturalismus und zum Zusammenleben jenseits konfessioneller Schranken. Gleichzeitig gibt es aber auch andere Reaktionen, wie sich etwa an den inzwischen über 50 Angriffen auf Moscheen und muslimische Gebetsstätten seit den Attentaten – mit Brandstiftung, Gewehrschüssen, Übungshandgranaten und Schmähparolen – zeigt.
Der Front National nährt, auch wenn er sich in seinen offiziellen Verlautbarungen noch zurückhält, eine Stimmung des »Kopf ab und Ausländer raus«. Auf den Demonstrationen kam dies kaum zum Ausdruck, da sie eher durch den linksliberalen Teil der Öffentlichkeit geprägt wurden. Doch es gibt auch Menschen, die das Geschehen eher am Tresen des Café du commerce, also dem Pendant zum deutschen Stammtisch, verfolgen und anders bewerten. Der Dissens zwischen beiden gesellschaftlichen Gruppen könnte schon in naher Zukunft, wenn die Gemeinsamkeit der von allen geäußerten Betroffenheit und Trauer nachlässt, sichtbar werden.
Die Regierung plant, innerhalb von drei bis vier Monaten eine neue Anti-Terror-Gesetzgebung vorzulegen. Deren Inhalt bleibt noch im Dunkeln. Neben sinnvollen Vorhaben wie einer besseren Überwachung der Sicherheit jüdischer Gebetsstätten und Einrichtungen wird es wohl auch um Überwachungsmaßnahmen in der Telekommunikation und im Internet gehen. Konservative Prominente wie die ehemalige Hochschulministerin Valérie Pécresse fordern seit Anfang der Woche bereits einen »Patriot Act à la française«, unter Anspielung auf ein nach den Attentaten von 2001 eingeführtes und heute sehr umstrittenes Gesetz in den USA. Wenn es um absehbare sicherheitspolitische Verschärfungen gehen wird, dürfte die derzeitige Gemeinsamkeit einem heftigen Streit weichen.