Eine Studie über Antisemitismus in Berlin

Der ganz alltägliche Antisemitismus

Eine kürzlich vorgestellte Studie der Technischen Universität Berlin beschäftigt sich mit Antisemitismus in der Bundeshauptstadt.

Zur Jahreswende erregten zwei antisemitische Vorfälle in Berlin öffentliche Aufmerksamkeit. In der Silvesternacht bemerkt Shahak Shapira, ein 26jähriger Israeli, sieben junge Männer, die lauthals »Fuck Israel, Fuck Juden« in der U-Bahn grölen. »Der Zug war voll, aber niemand hat etwas gesagt. Nur zwei Fahrgäste, die sofort eingeschüchtert wurden. Da bin ich zu den arabisch- oder türkischstämmigen Männern gegangen und habe sie gebeten, mit den Hassgesängen aufzuhören«, beschreibt Shapira die Situation gegenüber der BZ. »Ich komme aus Israel und wenn ihr ein Problem habt, sagt es mir«, sprach er die Gruppe direkt an. Ohne auf ihn zu reagieren, grölte die Gruppe weiter Hasstiraden. Shapira nahm sie mit dem Handy auf und wurde dafür bespuckt. Wenig später, am Bahnhof Friedrichstraße, drängte sie ihn dazu, die Video-Aufnahme zu löschen, doch Shapira ging nicht auf diese Forderung ein. Die Reaktion: Es prasselten Fausthiebe und Tritte auf ihn nieder. Gerettet wurde der 26jährige durch Fahrgäste, die ihn in die U-Bahn zogen. »So eine Situation entsteht, weil sich keiner traut«, ist sich Shapira sicher. »Wenn alle aufgestanden wären, hätte ich keine Courage zeigen müssen.« Shapiras Großvater, der Leichtathletiktrainer Amitzur Shapira, war 1972 bei den Olympischen Spielen in München von palästinensischen Terroristen getötet worden.

Drei Tage nach dem Vorfall in der U-Bahn entdeckte ein Mitglied der Jüdischen Gemeinde aus Charlottenburg, dass jemand in die Motorhaube seines Autos ein Hakenkreuz geritzt hatte. »Das, was ich spüre, nenne ich mal nicht Angst. Ich würde sagen, es ist ein Zustand erhöhter Aufmerksamkeit, in dem ich mich derzeit befinde. Für uns Juden gehören der Terror und Attentate schon lange zum alltäglichen Leben«, beschreibt der Rabbiner Daniel Alter gegenüber der BZ die Situation deutscher Juden nach dem Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris. 2012 wurde Alter in Berlin-Friedenau verprügelt, zuvor hatten ihn die Angreifer gerfagt, ob er Jude sei.
Judenfeindlichkeit ist in Berlin ein alltägliches Problem. Drohungen, Angriffe und Vorurteile sind keine Seltenheit. Aber wie weit Antisemitsmus verbreitet ist, bleibt nahezu im Dunkeln – so das Fazit in einer im Januar vorgestellten Studie des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Zwar registrieren die Polizei und der Verfassungsschutz seit langem judenfeindliche Vorkommnisse, die Schulverwaltung führt ein Vorfallsverzeichnis und lokale NGOs beraten die Opfer, aber valide Erhebungen beziehungsweise vergleichbare Einschätzungen sind kaum möglich. All diese Statistiken und Auflistungen bieten nur einen äußerst begrenzten Einblick. So hat die Beratungsstelle Reachout im Jahr 2013 nur acht Übergriffe gezählt, während die Polizei auf 192 kommt. Der Grund dafür dürfte sein, dass sich Reachout ausschließlich mit regelrechten Angriffen befasst. Propagandadelikte, wie sie die Polizei in der Statistik führt, fallen nicht darunter.

Die Häufigkeit antisemitischer Vorfälle unterliegt bestimmten Schwankungen, die oftmals mit aktuellen politischen Ereignissen zusammenhängen. In der Zeitspanne von 2010 bis 2013 zählte das Landeskriminalamt insgesamt 677 anti­semitisch motivierte Delikte in Berlin. Bei den meisten handelt es sich um Propagandadelikte, insbesondere Fälle von Volksverhetzung. Die Zahl der registrierten Gewalttaten liegt wie in den Vorjahren im einstelligen Bereich. Doch diese Erhebungen sind äußerst zweifelhaft. In der Studie verweisen die Wissenschaftler auf ein »erhebliches Dunkelfeld« von nicht angezeigten Taten. »Es gibt sehr viele Gemeindemitglieder, sehr sehr viele Gemeindemitglieder, und die sind betroffene Personen. Und trotzdem, entweder wird der Fall bei der Polizei nicht bekannt oder wenn er bekannt ist bei der Polizei, dann wird er als nicht strafrelevant eingestuft oder wird nicht weiter strafrechtlich verfolgt etc., solche Vorfälle sind massenhaft«, wird ein anonymisiertes Gemeindemitglied in der Studie zitiert.
Häufig legen Berliner Juden die Symbole der Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft in der Öffentlichkeit ab oder frequentieren bestimmte Stadtviertel nicht oder nur ungern. Eine übliche Strategie, um Beleidigungen und Angriffen aus dem Weg zu gehen: »Ich würde mich niemals trauen, mit meiner traditionellen Kopfbedeckung, die offen zu zeigen und damit durch Neukölln oder Moabit oder Wedding zu laufen.« Jeder weitere Übergriff verstärkt die persönliche Bedrohungswahrnehmung. Weshalb aber die Autoren der Studie dies als »charakteristisch für die jüdischen Perspektiven« einordnen, bleibt offen.
Erklärtes Ziel der Autoren war, das »fragmentarische Wissen zusammen(zu)tragen, welches wir über Antisemitismus in Berlin haben«. Auf ihren Versuch, Gesprächstermine mit Verantwortlichen der unterschiedlichen jüdischen Einrichtungen zu erhalten, wurde »teils zurückhaltend reagiert«. Der Verein »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« dagegen war zu einer Stellungnahme bereit, in der die Autoren aber keine detaillierte Auswertung der »spezifischen Berliner Situation« entdecken konnten. In den Publikationen des Vereins werde Antisemitismus durchaus thematisiert, »jedoch in erster Linie als abzuwehrender Vorwurf, der dazu diene, Kritik an Israel zu delegitimieren«.
Trotz der vorliegenden Erhebungen und Quellen war es den Autoren nicht möglich, »eine genaue Gesamtdarstellung der Verbreitung antisemitischer Phänomene in Berlin« zu erarbeiten. Statt dies als Bankrotterklärung der bisherigen politischen Bemühungen des Berliner Senates und der von ihm finanziell abhängigen Zivilgesellschaft zu erkennen und zu benennen, fordert man zuerst einmal eine einheitliche Definition des Begriffes Antisemitismus und auf dessen Grundlage eine neue Studie. Ein Schelm, wer darin eine weitere Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für gut vernetzte Wissenschaftler vermutet.

Ob säkular, liberal oder orthodox, das vielfältige jüdischen Leben in Berlin ist deutschlandweit einzigartig. Die jüdische Gemeinde zählt über 10 000 Mitglieder. Schätzungen gehen davon aus, dass 25 000 bis 35 000 Menschen aus Israel hier leben. Während die Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden überall in Deutschland sinken, etabliert sich in Berlin eine neue jüdische Szene, die aber mit alten Strukturen nur noch lose verbunden ist. Die Synagoge am Fraenkelufer ist dafür das beste Beispiel. Selbst amerikanische Online-Medien wie die Jewish Week bezeichnen die Synagoge als trendy.
Israelische Journalisten haben Shapira mehrfach angerufen. Die Schlagzeile der israelischen Tageszeitung Yediot Ahronot zu dem Vorfall lautete: »Der Großvater wurde in München ermordet, der Enkel in Berlin angegriffen«. Für einen Politiker der Likud-Partei ist dieser Fall ein weiterer Beweis dafür, dass der Antisemitismus in Deutschland neue Höhen erreicht habe. Aber Shapira ist anderer Meinung: »Der Vorfall darf nicht missbraucht werden, um Hass auf Muslime zu schüren«, so der 26jährige. »Die Angreifer hätten genauso gut Neonazis sein können und der Geschlagene ein Araber«. Er »liebe Berlin und bleibe hier«.