Ein Besuch der Roma-Siedlung im burgenländischen Oberwart

»Schaut her, ich bin euer Vorurteil«

Es war das blutigste politische Attentat in der österreichischen Nachkriegsgeschichte: Am 4. Februar 1995 wurde im burgenländischen Oberwart von Rechtsextremen ein Anschlag verübt, bei dem vier junge Roma starben. 20 Jahre später bereitet sich die kleine Siedlung auf eine große Gedenkfeier mit viel politischer Prominenz vor.

»Was machen Polizisten, wenn sie einen Bären fangen wollen? Sie holen einen Hasen aus dem Stall und prügeln ihn, bis er zugibt, dass er ein Bär ist.« Ein Witz, der nicht zum Lachen gedacht ist. Stefan Horvath gibt ihn zum Besten, um zu erläutern, wie sich die Polizei in Oberwart gegenüber den Roma verhalten habe, als er jung war.
Heute, sagt er, sei das Verhältnis viel aufgeklärter. Aber damals seien zu jedem Anlass Polizisten »in die Siedlung« gekommen, um junge Roma festzunehmen, sie eine Weile ihrer Freiheit zu berauben und erst, wenn alle »polizeiliche Behandlung« kein Ergebnis brachte, wieder rauszuschmeißen.
Die Siedlung, das ist eine Ansammlung von Häusern am Rande der Stadt. Bis 1987 befand sie sich gar außerhalb der Stadt, das Ortsschild »Oberwart/Felsőőr« stand auf halbem Weg zwischen den Häusern der Roma und jenen der gadsche (Nichtroma). Es sei die »unnötigste und unverschämteste aller Ortstafeln«, stellten Linke damals fest – und rissen die Tafel kurzerhand aus der Verankerung. Die Gemeinde war wenig begeistert. Heute endet Oberwart erst nach der Einfahrt zur Siedlung.
Die Geschichte der Siedlung ist voller Ambivalenzen. Da sind einerseits der Rassismus und die Ausgrenzung der Armen, aber da ist auch die Erinnerung an Zeiten, in denen die Siedlung in Oberwart ein Ort voller Leben war, an dem Kinder zusammen aufgewachsen sind, an dem es ein Zugehörigkeitsgefühl gegeben hat, das den wenigen, die heute noch hier wohnen – Kinder sind keine mehr darunter – abhanden gekommen ist. Nur noch 40 Leute sind übriggeblieben, immer mehr Häuser stehen leer. Einer der sich wünscht, dass die Siedlung weiterlebt, ist Stefan Horvath. Er habe »Visionen«, wie er sagt, Ideen für eine Neubelebung, nur fehlen ihm bisher die Mitstreiterinnen: »Meine Nachbarn interessiert die Zukunft nicht«, sagt er.
Oberwart ist eine kleine Stadt im Südburgenland, nach wie vor einer der ökonomisch ärmsten Regionen Österreichs. Die Amtssprachen der Stadt sind Ungarisch und Deutsch. Etwa die Hälfte aller Burgenland-Roma, rund 1 500 Personen, lebt im Bezirk Oberwart. Vor 22 Jahren errangen sie die Anerkennung als sechste »Volksgruppe« Österreichs.

Hier wurden vor 20 Jahren, am 4. Februar 1995, bei einem Anschlag vier Männer ermordet. Unter ihnen war Peter Sarközi, Stefan Horvaths Sohn, getötet wurden außerdem Josef Simon sowie Karl und Erwin Horvath, der gerade mal 18 Jahre alt war. Der rechtsextreme Attentäter, Franz Fuchs, hatte in den neunziger Jahren unter dem Label einer »Bajuwarischen Befreiungsarmee« mehrere Briefbombenattentate auf Menschen und Institutionen des öffentlichen Lebens begangen, die sich liberal bis progressiv zu Fragen von Flucht, Migration und Minderheiten verhielten. Solche Briefe erreichten unter anderem den damaligen sozialdemokratischen Bürgermeister von Wien, Helmut Zilk, eine slowenischsprachige Schule in Kärnten, Flüchtlingshelferinnen, Politikerinnen der Grünen und Mitarbeiter der Caritas. Die vier Männer in Oberwart waren die einzigen Todesopfer.
Damals, sagt Charly Gärtner-Horvath vom Verein »Roma Service«, habe er »den Rassismus aus dem Radio heraus gespürt«. Selbst als die Kriminalpolizei längst festgestellt hatte, dass es sich um einen Anschlag handelte – und zwar um den ersten politischen Mordanschlag in der österreichischen Nachkriegsgeschichte – blieben die meisten Medien bei ihrer Lieblingsversion, eine »Zigeunerfehde« habe sich in Oberwart zugetragen.
Franz Fuchs wurde erst 1997 verhaftet, im Jahr 2000 beging er Selbstmord. Während man sich in Oberwart mehrheitlich auf die Ermittlungsergebnisse geeinigt zu haben scheint, wird mancherorts weiterhin an der These des Einzeltäters gezweifelt. Auch Emilia Horvath (Name von der Redaktion geändert) hält den Glauben daran für reine Bequemlichkeit und für einen Ausdruck der Weigerung des Staates, im Umfeld der rechtsex­tremen Szene zu ermitteln: »Wenn ich der Staat Österreich wäre, würde ich auch daran festhalten. Man hat den Fuchs gefunden und will sich nicht weiter damit beschäftigen. Aber wer weiß, wie weit das in die rechte Szene hineingeht.«
Emilia ist in der Siedlung aufgewachsen. Nach Abschluss der Schule zog sie nach Wien und behielt für sich, dass sie Romni ist. Zu viel Rassismus schlage ihr entgegen, unter Bekannten genauso wie am Arbeitsplatz: »Manchmal würde ich am liebsten aufspringen und sagen, schaut her, ich bin euer Vorurteil. Was mache ich von all dem, was ihr da zu wissen glaubt?« Aber sie springt nicht auf. »Nein, nein, nein«, sagt sie mit Nachdruck, »ich mag mein Leben in Wien genau so, wie es ist. Das ist für mich kein Thema mehr.«
Emilia ist Anfang 30 und gehört zur ersten Generation, die nicht mehr nach rassistischem Automatismus in die Sonderschule gesteckt wurde. Sie war noch ein Kind, als junge Leute in Oberwart »Discoverbot« bekamen, weil sie Roma waren, und als sie sich zusammenschlossen und einen Brief an den damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim schrieben. Sie war auch noch sehr jung, als die Oberwarter Romni Susanne Baranyai in einer renommierten Diskussionssendung des staatlichen Fernsehens aussprach, was es bedeutete, Rom oder Romni zu sein mitten in einem blühenden Wohlfahrtsstaat: an den Rand gedrängt und mit alltäglichem Rassismus beschäftigt. »Im Verborgenen lebend«, wie Stefan Horvath es nennt. »Damals«, erzählt auch Horst Horvath (an dieser Stelle muss die Leserin, der Leser angehalten werden, sich nicht über die Häufigkeit des Namens Horvath zu wundern: Er ist ein unter Burgenland-Roma, aber auch Burgenland-Kroaten und ebenso burgenländischen Mehrheitsösterreichern historisch bedingt sehr gängiger Nachname, der von der ungarischen Vokabel für »Kroatisch« herrührt), damals, als er noch als Arbeitsmarktbetreuer des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales arbeitete, sei es gang und gäbe gewesen, die Dateien der Arbeitssuchenden mit »Zigeuner« zu markieren. Das zumindest sei heute undenkbar.
Horst Horvath, der unter anderem die Volkshochschule burgenländischer Roma leitet, war in den achtziger Jahren dabei, als die ersten Schritte Richtung Sichtbarkeit unternommen wurden. Gemeinsam mit seinen Kolleginnen stellte er, ungefragt, ein Denkmal zur Erinnerung an die NS-Opfer am Oberwarter Hauptplatz auf. Er war dabei, als der erste Roma-Verein gegründet wurde und als die Roma begannen, die Anerkennung als Volksgruppe anzustreben.

Fragen wir nach, was so eine Anerkennung bringt, so bekommen wir vielfältige, aber durchaus nicht widersprüchliche Antworten: Horst Horvath und sein Kollege Andreas Lehner nennen die Anerkennung einen »Hebel, an dem du ansetzen kannst, um die wichtigsten Maßnahmen im Bildungs- und Arbeitsmarktbereich umsetzen zu können«. Stefan Horvath sieht den Vorteil eindeutig bei den Vereinen, die bezahlte Stellen geschaffen haben. »Für den Einzelnen hat sie gar nichts gebracht«, stellt er aber fest. Gerhard Baumgartner, der wie Horst Horvath ein Kind der frühen Kämpfe um ein geschichtsbewusstes Oberwart war und heute das »Dokumentationsarchiv für den österreichischen Widerstand« wissenschaftlich leitet, sieht die Anerkennung lediglich als Verbesserung des Images des österreichischen Staates – nicht ganz zufällig kurz vor dem Beitritt zur Europäischen Union: »Das ist eine gute symbolische Geste, wir erkennen die Roma an, das kostet uns nix«, kommentiert er polemisch.
Im Dezember 1993 ist die Anerkennung mit bis dato ungekannter Einigkeit aller Parlamentsparteien beschlossen worden: »Die beiden Koalitionspartner stolperten fast über ihre eigenen Füße, so schnell trugen sie das durchs Parlament.« So oder so kam Österreich zu seiner sechsten offiziellen Minderheit.
Charly Gärtner-Horvath leitet den Verein »Roma Service«, eine der Organisationen, die durch die Volksgruppenförderung finanziert werden. In den neunziger Jahren hat der Verein die »außerschu­lische Lernbetreuung«, eine kostenfreie Nachhilfe für Schulkinder, eingeführt. Ein wenig aufsehenerregendes Konzept, möchte man meinen, aber die Auswirkungen waren beträchtlich. »Die Schulkarrieren der Kinder aus Romafamilien beginnen sich denen der Kinder aus anderen österreichischen Familien anzugleichen«, sagt Baumgartner. »Es gab bis 1995 keinen einzigen Akademiker, der aus einer Romafamilie stammte, oder keinen Akademiker, der sich dazu bekannt hätte. Heute gibt es beides. Mehrfach.«
Zwischen 2006 und 2008 hat Gärtner-Horvaths Verein mit dem Forschungsprojekt »Mri historija« (»Meine Geschichte«) 15 Lebensgeschichten von Burgendland-Roma aufgezeichnet, die den Holocaust überlebt haben oder kurz danach geboren wurden. Damit wurde die erste großan­gelegte Zeitzeugengeschichte burgenländischer Roma geschrieben. Nach dem Holocaust standen erst einmal andere Probleme im Mittelpunkt, sagt Baumgartner: »Die Situation der Überlebenden war grausam. Im Burgenland haben etwa zehn Prozent der Roma den Nationalsozialismus überlebt. Die hatten sechs, sieben Jahre in Lagern verbracht und davor großteils sehr wenig Schulbildung genossen. Es gab einerseits keinen Zugang zu Literatur und Wissenschaftlichkeit, andererseits hatten die meisten, als sie zurückkamen, keine Häuser, keine Unterstützung, kein Geld, nichts zu essen – also wahrlich andere Sorgen als Geschichtsschreibung.« Ein Problem, das bis zur Anerkennung als Volksgruppe bestand. Schließlich heißt Anerkennung auch Outing, und es gab genug Roma, die spätestens mit dem Attentat 1995 genug hatten von der Sichtbarkeit.
Stefan Horvath sieht die Dinge anders. Ihn hat gerade der Moment, als er seinen ermordeten Sohn sehen musste, dazu gebracht, die Geschichte als einen großen Zusammenhang zu verstehen. Mit dem Roman »Katzenstreu« (2007) beschrieb er den Prozess dieser Bewusstwerdung. Die Verbrechen, die an seiner Elterngeneration begangen worden waren, kamen jetzt zu ihm zurück. Stefan Horvath ist heute im Zeitzeugenprogramm an österreichischen Schulen tätig. Dort bringt er nicht nur Kindern Geschichte bei – er bekommt auch viel zurück: »Indem mir die Kinder zuhören, nehmen sie mir die Last der ganzen Geschichte dieser Volksgruppe ab.«

Manuela Horvath ist 29. Auch sie ist in der Siedlung aufgewachsen. Die »Last der ganzen Geschichte« spürt sie so nicht. »Mit rassistischen Äußerungen werden wir immer leben müssen«, sagt sie mit erstaunlichem Pragmatismus. Der Weg, für den sie sich entschieden hat, ist der in die Öffentlichkeit. Sie leitet Workshops gegen »antiziganistische Stammtischparolen«, arbeitet an einer Studie zur Verbesserung der Bildungssituation österreichischer Roma mit und bereitet für eine Ausstellung, die demnächst in Wien eröffnet wird, die Geschichte des Attentats auf. Ihr Groß­vater war einer der wenigen Oberwarter Roma, die die KZs der Nazis überlebt haben. Von den Konzentrationslagern habe sie schon als Kind erfahren, der Großvater sei ständig dazu interviewt worden. »Das merkt man sich als Kind, allein weil man dann in der Küche nicht so laut sein darf.« Wann sie verstanden habe, dass sie eine Romni sei, weiß Manuela Horvath nicht mehr. Aber jüngst war sie mit ihrer kleinen Nichte auf einer Veranstaltung, auf der Charly Gärtner-Horvath sprach: »›Jetzt erzählt der Charly was über die Roma‹, habe ich gesagt, und dann gibt es Suppe. Und meine Nichte hat mich gefragt: ›Sind wir auch Roma?‹ Mit solchen Fragen bin ich überfordert.«
Im Oberwart laufen derzeit die Vorbereitungen für die Gedenkfeier, an der auch Bundespräsident Heinz Fischer teilnehmen wird, auf Hochtouren. Man muss Redelisten erstellen, den Ablauf klären, vor allem gegenläufige Interessen vereinen: Anrufe im Amt des Bundespräsidenten, Vermittlung zwischen diesem und jenem Verein sind nötig ebenso wie Absprachen darüber, wer darf wann sprechen, an welcher Stelle der Gedenkfeier kommt das Gebet und welche Texte sollen verwendet werden; werden die Medien wieder auflaufen, wieso hört man nicht auf die Wünsche der Angehörigen?
Diese Arbeit macht Monika Scheweck, die seit mehr als zehn Jahren in der »Roma-Pastoral« arbeitet, einer kirchlichen Anlaufstelle für Roma. Von den Uneinigkeiten über die Gedenkfeiern kann sie ein Lied singen. Und bleibt dabei gelassen. Dass es manche gibt, die nur wegen der Medienaufmerksamkeit antanzen und dann, so Emilias Worte, »einen Megazirkus veranstalten«, sei eben nicht zu verhindern. Und dass die einen jährlich ein religiöses Gedenken für ihre Angehö­rigen und die anderen alle fünf bis zehn Jahre einen staatspolitischen Akt abhalten möchten, scheint mit ein bisschen Bauchweh auch vereinbar zu sein. Wichtig ist, »dass die Anliegen der Menschen aus der Siedlung miteinbezogen werden«, und das konnte Monika Scheweck zumindest teilweise durchsetzen. Charly Gärtner-Horvath findet es gut, dass die ganze Prominenz kommt: »Solange Politiker sagen, ihnen sei die Teilnahme wichtig, verstehen sie dieses Attentat als Angriff auf die Republik.«
Das Attentat, so lernen wir, war in all seiner maßlosen Brutalität auch ein Wendepunkt zu mehr Sichtbarkeit und mehr Selbstvertrauen. Wäre das nicht passiert, versucht sich Stefan Horvath in einer pessimistischen Form der counterfactual history, »würde niemand von Oberwart oder von den Roma reden. Damals mussten die Republik und das Land und die Gemeinde reagieren. Das hätten sie sonst nicht getan.«
Stefan Horvath ist heute der älteste Siedlungsbewohner. Er wird am 4. Februar der letzte Redner sein – nach dem Bundespräsidenten. Er werde die Chance nützen, seine Zukunftsvisionen von Siedlung und Community zu vermitteln, kündigt er an, um das Gespräch dann mit einer ganz pragmatischen Wendung zu beenden: »Hoffen wir, dass das Wetter passt. Man muss damit rechnen, dass das eineinhalb, zwei Stunden dauert. Das ist furchtbar bei dieser Kälte. Das muss man schon einkalkulieren.«