Die deutsche Debatte über Meinungsfreiheit

Bedroht von der Meinungsfreiheit

Über die erstaunlichen Lehren, die aus dem Anschlag auf Charlie Hebdo gezogen ­werden.

Das große »Aber«, es begleitete hierzulande die Solidaritätsbekundungen nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris von Anfang an. Ja, die Morde seien abscheulich, und natürlich müsse man nun erst recht für die Meinungsfreiheit einstehen, wir sind schließlich alle Charlie! Aber das verpflichte noch lange nicht zum Abdruck von Mohammed-Karikaturen. Aber die Zeichnungen hätten ja auch provoziert, verletzt und Grenzen überschritten. Aber man müsse auch die religiösen Gefühle der Muslime respektieren. Aber man dürfe jetzt nicht der Islamophobie anheimfallen. Aber das Ganze habe nichts mit dem Islam zu tun, es sei sogar »ein Anschlag auf den Islam« (Heiko Maas, Bundesjustizminister) respektive ein »Akt gegen die Religion« (Ali Kızılkaya, Vorsitzender des Islamrates), außerdem seien die Täter gar keine »richtigen Muslime« gewesen (Thomas Oppermann, Chef der SPD-Bundestagsfraktion). »Die Mörder waren noch nicht gefunden, da verschwanden schon die Ermordeten aus dem Blick«, schrieb der Publizist Arthur Buckow in einem lesenswerten Essay, »und in den Vordergrund trat die paternalistische Sorge um die Muslime, genauer: die Sorge um den Islam.«
Bekir Alboğa, Sekretär der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib), mochte sich jedenfalls nicht lange mit den Bluttaten in der französischen Hauptstadt aufhalten. »Wir haben so einen Auftrag nicht erteilt«, sagte er im Deutschlandfunk knapp, die Mörder hätten in »Selbstjustiz« und »ohne Mandat seitens der islamischen Welt« gehandelt. Kritisiert wurde hier also nicht das Anliegen und die Motivation der Täter, sondern bloß ihr eigenmächtiges Vorgehen, mithin nicht der Inhalt, sondern nur die Form. Ohnehin sind für Alb-oğa die Muslime die eigentlichen Opfer der Attentate – und die Täter jene, die mit ihren Zeichnungen für emotionale Aufwallungen gesorgt hätten: »Man müsste natürlich sagen: Meinungsfreiheit verteidigen wir alle. Aber zählen die Gefühle der Muslime nicht? Gibt es nicht auch für die Muslime Werte, die man mit Respekt behandeln sollte? Wollen wir nicht einen Weltfrieden? Wollen wir nicht friedlich zusammenleben? Müssen wir uns ständig gegenseitig provozieren?«
Es charakterisiert die deutsche Debatte über die Anschläge von Paris, dass darin nicht ein Menschenrecht im Mittelpunkt steht und für unverhandelbar erklärt wird, sondern subjektive Befindlichkeiten wie Gefühle, Glauben und Werte. Teilweise wird dieses Menschenrecht so-gar allen Ernstes zur Bedrohung stilisiert, etwa, wenn es in einem Beitrag des ARD-Magazins »Panorama« heißt: »Bisweilen konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Mohammed-Karikaturen als eine Art Waffe im Kampf für die Meinungsfreiheit genutzt werden.« Womöglich, so die »Panorama«-Autoren, gehe es in der gegenwärtigen Debatte nicht nur um die Verteidigung des Rechtes auf das freie Wort, sondern auch um »eine Art Kulturkampf« zwischen »westlichen Werten« und »islamischen Werten«. Fest stehe jedenfalls: »Das Recht auf Meinungsfreiheit ist längst nicht die Rechtfertigung für jede Meinung.« Vielmehr müsse die Presse, so sagte es der Theologe und Medienpädagoge Roland Rosenstock im Beitrag von »Panorama«, »immer darauf achten, dass sie auch Verantwortung für die Folgen einer Veröffentlichung trägt«.
Im Deutschlandradio schlug die Journalistin Arlette-Louise Ndakoze in die gleiche Kerbe: »Auf freie Meinungsäußerung ohne Weiteres zu setzen, verharmlost die Gefahren, die sie birgt.« Ihre Grenzen lägen dort, wo sie durch Beleidigung, Ächtung und Hohn andere ausgrenze und den Dialog mit ihnen abbreche. Charlie Hebdo habe diese Grenzen mehrmals überschritten, findet Ndakoze: »In Zeichnungen und Kommentaren hat sie Personen verunglimpft und Werte angegriffen.« Bei allem Verständnis für die Trauer und die Solidarität mit der Redaktion sei es unreflektiert gewesen, »nach dem Pariser Anschlag die Freiheit des Wortes über alles zu stellen«. Auch der Satiriker Jesko Friedrich, der für die NDR-Sendung »Extra 3« arbeitet, glaubt, die Mohammed-Karikaturen seien gegen die »Gemeinschaft aller Muslime« gerichtet. Und das bringe deren Angehörige in eine alternativlose Situation: »Was kann ein Moslem anderes, als sich angegriffen fühlen, wenn sein Prophet erstens abgebildet und dann auch noch despektierlich abgebildet wird?«
Damit werden nicht nur die Rollen von Tätern und Opfern vertauscht und die Morde in der Redaktion von Charlie Hebdo faktisch legitimiert. Muslime werden zu Wesen erklärt, die gar nicht anders können, als auf den Spott über ihre Religion erst mit Beleidigtsein und schließlich mit roher Gewalt zu reagieren – und die man deshalb besser nicht mit zu viel Meinungsfreiheit konfrontiert. Diesem aberwitzigen medialen Plädoyer für eine Selbstbeschränkung des Menschenrechts auf freie Rede entspricht staatlicherseits die Überlegung, der Meinungsfreiheit mithilfe des Strafrechts stärker zu Leibe zu rücken und den Paragraphen 166 des Strafgesetzbuches zu verschärfen. Dieser Paragraph stellt die »Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen« unter Strafe – wenn dadurch der »öffentliche Frieden« gestört wird. Diese Einschränkung wurde 1969 hinzugefügt. Bis dahin war noch die Verspottung und Verhöhnung des Glaubens und der Religion per se strafbar – weshalb die Erzbistümer permanent Eingaben anfertigten, um Kritiker und Spötter zum Schweigen zu bringen, und damit oft genug auch Recht bekamen. Seit rund 46 Jahren jedoch ist Gotteslästerung erst dann justiziabel, wenn sich Gläubige durch sie derart gekränkt fühlen, dass sie öffentlich randalieren (oder dies zumindest befürchtet wird) und dadurch der »öffentliche Frieden« gestört wird.
In der Praxis führte die Einschränkung – die nun manche Unionspolitiker und konservative Juristen gerne wieder streichen würden – dazu, dass es kaum noch Verurteilungen wegen Blasphemie auf der Grundlage des Paragrafen 166 gab. Denn diejenigen Christen (an den Islam oder andere Glaubensgemeinschaften dachte man damals allenfalls am Rande), die sich von gotteslästerlichen Karikaturen, Texten oder Aktivitäten gestört fühlten, gingen nicht so weit, ihren Unmut gewaltsam auszuagieren. Gleichzeitig bleibt der Zusatz mit der Störung des »öffentlichen Friedens« eine Warnung – und ein strafrechtliches Instrument, um gegen Blasphemiker und andere Kritiker vorzugehen, indem man sie für eine Gefährdung der inneren Sicherheit (mit)verantwortlich macht. In dieser Logik sind nicht nur die Fanatiker, sondern auch die (überlebenden) Redakteure einer Zeitschrift wie Charlie Hebdo zu bestrafen, wenn ihre Kollegen von Islamisten über den Haufen geschossen werden. Und das ist absurd.
Die Freiheit der Rede wird nach dem Terror von Paris auf allen Ebenen nicht nur nicht gestärkt, sondern sogar eingeschränkt – ein posthumer Sieg für die Mörder und ihre (gar nicht so wenigen) Sympathisanten. Und wenn nicht gerade das Argument bemüht wird, man müsse Rücksicht auf religiöse Gefühle nehmen und dürfe niemanden kränken oder beleidigen, dann werden gerne fragwürdige Sicherheitsbedenken geltend gemacht, um eine Veröffentlichung, ein Kunstwerk oder eine Aktion abzusagen. So wie in Köln: Dort war eigentlich geplant, beim Rosenmontagszug mit einem eigenen Karnevalswagen auf den Terroranschlag gegen Charlie Hebdo Bezug zu nehmen. Das Motiv sollte einen »Jecken« zeigen, der einem Terroristen einen großen Bleistift in den Gewehrlauf stopft und so die Waffe zerstört. Dieser Entwurf hatte sich bei einer Abstimmung im Internet durchgesetzt und war auch vom zuständigen Festkomitee Kölner Karneval gutgeheißen worden. Die Polizei sowie ein Islamwissenschaftler – der Zurate gezogen worden war, um nur ja keinen Fehler zu machen – hatten ebenfalls keine Einwände: Weder drohten Anschläge noch sei mit Protesten beleidigter Muslime zu rechnen.
Dennoch machte das Festkomitee einen Rückzieher. Es habe Rückmeldungen »von besorgten Bürgern« gegeben, »die wir sehr ernst nehmen«, hieß es in einer Presseerklärung. Und da man wolle, »dass alle Besucher, Bürger und Teilnehmer des Kölner Rosenmontagszuges befreit und ohne Sorgen einen fröhlichen Karneval erleben« können, habe man entschieden, »den Bau des geplanten Charlie-Hebdo-Wagens zu stoppen und den Wagen nicht im Kölner Rosenmontagszug mitfahren zu lassen«. Denn: »Einen Persiflagewagen, der die Freiheit und leichte Art des Karnevals einschränkt, möchten wir nicht.« Eine vollkommen groteske Entscheidung mit einer noch groteskeren Begründung, wie auch der Kölner Künstler Gerd Buurmann findet. »Nicht der Persiflagewa-gen schränkt die Freiheit und leichte Art des Karnevals ein, sondern Eure widerliche Feigheit«, rief er auf seinem Blog dem Festkomitee zu. Der Chef der Grünen im Bundesland Nordrhein-Westfalen, Sven Lehmann, hatte ebenfalls kein Verständnis für die Entscheidung des Komitees: »Wenn Angst den Karneval überkommt, hat der Terror gewonnen.« Und zwar, so wäre hinzuzufügen, ohne dass jemand auch nur entfernt mit ihm gedroht hätte. Ein paar »besorgte Bürger« haben genügt, um selbst ein harmloses Bekenntnis zur Freiheit zu kippen. Man mag sich gar nicht vorstellen, was erst los wäre, wenn es tatsächlich ernst würde.