Belgische Jihadisten verurteilt

Die Keime sind schon in der Erde

Mitglieder der jihadistischen Gruppe »Sharia4Belgium« sind in Belgien verurteilt worden. Ist das ein echter Etappensieg in der Auseinandersetzung mit dem militanten Islamismus oder überwiegt die Symbolik?

Es war der größte Terrorismusprozess der belgischen Geschichte. Angeklagt waren 45 Mitglieder der inzwischen aufgelösten Gruppe »Sharia4Belgium«, die in Belgien gewaltsam einen islamischen Gottesstaat errichten wollte. Zudem habe sie, so die Anklage, ihre Mitglieder nach Syrien geschickt, um sich dem »Islamischen Staat« (IS) oder Kämpfern der al-Nusra-Front anzuschließen.
Angesichts dieser Dimension und nicht zuletzt der Aktualität der jüngsten Terrorwarnung in Belgien fand der Prozess international viel Beachtung, so auch die Urteilsverkündung vergangene Woche vor dem Strafgerichtshof Antwerpen. Dieser sieht als erwiesen an, dass »Sharia4Belgium« eine terroristische Vereinigung war. Ausschlaggebend dafür waren die Verbreitung jihadistischer Propaganda und das Verherrlichen des Märtyrertums via Website und Youtube, Kontakte zu militant-salafistischen Schlüsselfiguren wie Omar Bakri Muhammad und Anjem Choudary sowie die Indoktrination Jugendlicher und die Rekrutierung von Syrien-Kämpfern.
Für die gewöhnlichen Mitglieder bedeutet das Haft bis zu fünf Jahren sowie Geldstrafen von 15 000 Euro. Mitglieder der Führungsebene, die eine aktive Rolle gespielt haben beim Werben und Vermitteln von Jihadisten, wurden zu je zehn bis 15 Jahren Haft und Geldstrafen bis zu 30 000 Euro verurteilt. Nur neun der Angeklagten waren bei der Urteilsverkündung anwesend, die übrigen befanden sich wegen dringender Verpflichtungen in Syrien, mehrere sollen dort gestorben sein.

Juristischer Knackpunkt des Prozesses ist die Frage, ob die reine Bildung einer terroristischen Vereinigung strafbar ist oder ob ihren Migliedern darüber hinaus konkrete Verbrechen nachgewiesen werden müssen. Dem Antwerpener Gericht zufolge ist die Planung von Anschlägen inner- und außerhalb Belgiens hinreichend für eine Verurteilung. Es wies den Einwand der Verteidigung zurück, wonach die Aktivität von Mitgliedern von »Sharia4Belgium« in Syrien unter die Zuständigeit des internationalen Rechtsfalle. Sie hätten sich nicht regulären Streitkräften angeschlossen, sondern terroristischen Organisationen.
Jenseits dessen hat das spektakuläre Verfahren erhebliche Bedeutung für den Diskurs um Terror und Sicherheit in Belgien. Mit den verhängten hohen Haftstrafen demonstriert die Justiz Handlungsfähigkeit und Stärke, zumal sie selbst mehrfach und ausdrücklich zum Ziel jihadistischer Anschläge erklärt wurde. Weitere potentielle Syrien-Kämpfer, so hofft man, werden abgeschreckt, andererseits ist da die Furcht vor Racheakten. In mehreren Videos aus IS-Kreisen wurde Belgien jüngst konkret mit Anschlägen bedroht.
Terraingewinn bedeutet das Urteil für den Staat auch im Kampf der Bilder. In der Berichterstattung fielen dabei die Haftstrafen der anderen Mitglieder vielfach hinter die zwölfjährige Haftstrafe für einen Mann zurück, den das Gericht als »absoluten Führer« von »Sharia4Belgium« ausmachte: Fouad Belkacem, ein früherer Gebrauchtwagenhändler aus Antwerpen, 2013 zu anderthalb Jahren Gefängnis wegen Aufruf zu Hass und Gewalt gegen Nichtmuslime verurteilt. Als einziger Vertreter der Führungsebene blieb »Abu Imran« in Belgien, als sich die Organisation 2012 auflöste.
Weit über die Grenzen des Landes wurde zuletzt spekuliert, warum Belgien im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten ausländischen Kämpfer aus Westeuropa im syrischen Bürgerkrieg stellt – umso mehr, nachdem Mitte Januar offenbar in letzter Minute mehrere jihadistische Anschläge vereitelt worden waren. Dabei gab es kaum eine Analyse, in der »Sharia4Belgium« nicht auftauchte. Belkacem wurde zum »Gesicht des Terrors«, sein rasierter Kopf, der lange Bart und die dünn umrandete Brille zur personalisierten Bedrohung. Dieses Gesicht weiß man nun langfristig hinter Gittern. Bleibt die Frage, ob das einen Befreiungsschlag in der Auseinandersetzung mit dem militanten Islamismus darstellt, einen Etappensieg, oder ob eher die Symbolik überwiegt.

Dass »Sharia4Belgium« bei der Radikalisierung von Jugendlichen eine Rolle gespielt hat, kann als gesichert gelten. Mitglieder der Organisation tauchten etwa 2011 in Vilvoorde auf, einem Städtchen mit 40 000 Einwohner nahe Brüssel, das mit rund 30 Kämpfern in Syrien selbst für belgische Verhältnisse überrepräsentiert ist. Ab 2012 erfuhr die lokale Moscheevereinigung erstmals, dass Gemeindemitglieder in Syrien waren. Auch Familienangehörige mehrerer Syrien-Kämpfer beschuldigen die Organisation, ihre Söhne einer salafistischen Gehirnwäsche unterzogen und sie in den Bürgerkrieg geschickt zu haben.
Fraglich ist hingegen, ob »Sharia4Belgium« ein derart großer Faktor im Gefüge der Rekrutierung für den Jihad war. In belgischen Medien ist davon die Rede, sie habe »zig« Menschen nach Syrien geschickt. Dass dies schwer zu beziffern ist, liegt in der Natur der Sache. Geht man jedoch von den derzeit kolportierten 300 bis 350 foreign fighters aus, deutet das auf wesentlich komplexere Strukturen hin. »Das Gericht schließt den ranzigen Laden der Zeloten von Sharia4Belgium, aber zur gleichen Zeit stecken die Keime für Spin-Offs schon im Boden«, kommentierte der Politologe Fouad Gandoul in der Zeitung De Morgen.
À propos Boden, dieselbe Zeitung veröffentlichte am Tag des Urteils eine vergleichende Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Demnach sind mit gut 66 Prozent auffällig viele belgische Muslime davon überzeugt, sie müssten zu den Wurzeln ihres Glaubens zurückkehren, in Deutschland sind es knapp 50 Prozent, in den Niederlanden 54,5 Prozent und in Frankreich 61,4 Prozent. Die größte Zustimmung zur Aussage, es gebe nur eine verpflichtende Interpretation des Koran, kam mit über 82 Prozent ebenfalls aus Belgien.