Das neue Album von Gang of Four gefällt nicht

Die Last musikalischer Geschichte

Als eine der einflussreichsten Bands der vergangenen vier Jahrzehnte gehören Gang Of Four zu den Klassikern der Popgeschichte. Doch was bleibt übrig, misst man die jüngste Veröffentlichung der Band an ihrer Vergangenheit?

Es ist eigentlich ganz einfach. Täglich wächst die Menge an Bands, Künstlern, Musikstilen, Subkulturen und Moden. So demokratisierend man die Möglichkeiten von Laptop-Musik – jeder kann ja heutzutage Musiker sein – sowie die Verfügbarkeit von Musik dank Spotify oder Soundcloud finden mag, irgendwie muss eine Auswahl getroffen werden. Orientierung bietet beispielsweise die Suche nach Referenzkünstlern: Franz Ferdinand klingen wie The Talking Heads, die Beatsteaks schreiben von The Clash ab und Paul Pötsch, der Sänger der Hamburger Band Trümmer, sieht aus wie der junge Jochen Distelmeyer. Der Verweis auf entsprechende Künstler ist in dieser Logik auch Qualitätssiegel. Eine andere Möglichkeit zur Orientierung besteht darin, sich den Klassikern zu nähern, auf die sich junge Künstler in ihrem Schaffen beziehen. Also hören wir ohne Umweg die Talking Heads, die Ramones oder »die alten Tocotronic«.
So verständlich dieser Umgang mit der Unübersichtlichkeit auch ist, er befeuert eine Musealisierung von Musik, die bedenklich an die lächerlichen Editionen kanonischer Werke der Literatur erinnert. Die schöne Pointe von Popmusik, ja vielleicht Popkultur insgesamt, steht dazu quer: Pop denkt in Hits und Hypes. Eine Eigenheit, die oft von links wie von rechts als Oberflächlichkeit, Substanzlosigkeit oder damit abgetan wird, es handele sich wieder mal nur um eine Mode. Egal, ob die Klassiker als Referenz dienen, um eine Band aufzuwerten, oder die angeblich glorreiche Vergangenheit gegen die vermeintlich miese künstlerische Gegenwart auszuspielen, in beiden Varianten wird eine substantiellere, echtere, bessere Vergangenheit gegen das Hier und Jetzt des Pop gestellt.
Eine Diskussion, die gleichsam den Generationenkampf von Jung gegen Alt widerspiegelt. Die alten Säcke produzieren noch immer Musik, Kunst, Literatur. Und sie sitzen häufig in Machtpositionen und beanspruchen Deutungshoheit. Die Jungen sind euphorisiert, die Alten blöken: Kennen wir schon, die klingen doch bloß wie … 
Womit wir bei Gang Of Four angekommen wären, einer Band, über deren Status als Klassiker Konsens besteht. 1977 taten sich Gitarrist Andy Gill, Sänger Jon King, Bassist Dave Allen und Schlagzeuger Hugo Burnham als Gang Of Four in Leeds zusammen. Sie wurden zu einer der wichtigsten Bands der späten siebziger und frühen achtziger Jahre, mit einem Sound, der den politischen Sturm und Drang des Punk und den Groove des Funk klug kombinierte. Der Rolling Stone bezeichnete Gang Of Four als beste politische Band im Rock ’n’ Roll.
Die Liste der späteren Profiteure, Nachahmer und Inspirierten versammelt so klangvolle Namen wie Nirvana, Red Hot Chili Peppers, Franz Ferdinand und Rage Against The Machine. In dieser Liga befinden wir uns also: Klassiker, die von Klassikern abgekupfert haben. Noch immer werden Gang Of Four als Postpunk bezeichnet und dadurch in eine Schublade mit den zur gleichen Zeit emporgekletterten Joy Division oder The Fall gesteckt, mögen diese Vergleiche bezüglich Ästhetik und Sound noch so sehr in die Irre führen. Vor allem die Politik von Gang Of Four ging über die Selbstumkreisungen von Joy Division immer hinaus. Der Situationismus und die Frankfurter Schule inspirierten Gang Of Four dem eigenen Bekunden nach, was ihnen schnell den Ruf einbrachte, Neomarxisten oder gar Maoisten zu sein.
Der ebenfalls Ende der siebziger Jahre entstehende Industrial von Throbbing Gristle stellte mittels rhythmischer, stampfend-maschineller Klänge den Alltag in den Fabriken nach: monoton, lärmend, an der Grenze zum Erträglichen. Throbbing Gristle waren klassenkämpferisch insofern, als ihre Musik die alltäglichen Zumutungen aus Routine und Maschinenlärm begreifbar machte. Gang Of Four luden selbst in ihren giftigen Momenten noch zum Tanz. Ihr Debüt »Entertainment!« machte unmissverständlich klar, in welche Richtung die Kritik der Band zielte. Es ging um die Manipulation des Menschen in der Informationsgesellschaft. Ihren Reiz bezogen Gang Of Four gerade aus dem Spannungsverhältnis, einerseits tanzbar und eingängig zu sein, auf der anderen Seite Hedonismus und Lust immer wieder auch als Betäubung und Stillstand zu interpretieren.
All das ist 35 Jahre her. Nach »Content« (2011) erscheint mit »What happens next« nun ein Album der neu formierten Gang Of Four, dem es in keiner Sekunde gelingt, relevant zu sein oder wenigstens aktuell zu klingen. »What happens next« repräsentiert den Zeitgeist der Jahrtausendwende, als mit New Metal eine Grenzüberschreitung zwischen HipHop, Metal und Hardcore gelang. Damals lobenswert. Was aber bedeutet es, diesen Sound heute von älteren Herren zu hören?
Das Album setzt sich aus Hall, dick aufgetragenen Drumsounds und beliebig anmutenden Schlagwörtern aus dem kleinen Einmaleins der Gesellschaftskritik zusammen. Von Erwartungen an die Zukunft keine Spur, über Aussagen zur Gegenwart wie »I take what I’m sold, I hear everything I’m told, nothing I can control« kommt kein Text hinaus. Die Welt ist schlecht, sie wird schlecht bleiben, weil sie es schon immer war.
Nur noch Gitarrist Andy Gill ist geblieben als Sänger, Gitarrist und derjenige, der die auffällig mediokren Electronica dazuprogrammiert hat. War das wuchtige Miteinander der Rhythmusgruppe mit Gills zwischen Stakkato und fein gewobenen Melodielinien wechselndem Gitarrenspiel 1977 brillant und überraschend zugleich, so vermitteln Gang Of Four im Jahre 2015 anschaulich, wie Bedürfnislosigkeit musikalisch klingt.
Was hier mit Gang Of Four geschieht, steht stellvertretend für eine Tendenz der vielen Alten, die seit einer Weile wiederkommen, all die Soundgardens und Pink Floyds. Mit dem Unterschied, dass sich Gang Of Four immer als gesellschaftskritische, als politische Institution verkauften. Aber ehemals kritisch zu lesende Gesten verkommen in der millionsten Wiederholung zur schnöden Routine. Nirvana gingen dieses Problem mit einigem Gespür für Ironie an: Sie zersägten den wohl wichtigsten Song der vergangenen Jahrzehnte auf der Bühne, indem sie »Smells like Teen Spirit« und Bostons Rock-Klassiker »More than a Feeling« mischten, dem immer eine so große Ähnlichkeit zu Nirvanas Übersong nachgesagt wurde. Bis heute stehen die Menschen auf den Tanzflächen der Rockdiscos und tanzen zu »Here we are now, entertain us« – das ist ziemlich witzig einerseits und ziemlich schlau andererseits, weil es begreiflich macht, dass es kein außerhalb des Systems gibt. Kritik verkauft auch Platten. Eine so smarte Band wie Gang Of Four mit einem so klaren Willen zum Andersmachen dürfte das wissen.
Konfrontiert man »What happens next« mit der Selbstwahrnehmung der Band, mit den Texten, ihren Appellen, ja mit der eigenen Geschichte, ist das Album blanke Regression. Fatalistische politische Auseinandersetzung, die in den Sechzigern so richtig wie heute war, trifft ein musikalisches Vokabular von gestern. Aber man soll Diskussionen über Pop ja nicht durch die Geschichten von damals belasten. Das künstlerische Statement muss für sich allein stehen. Na gut, damit bliebe festzustellen: »What happens next« ist ein mieses Album.

Gang Of Four: What Happens Next (Membran/Membran)