Die Debatte über Meinungsfreiheit in Italien

Karikatur der Solidarität

In Italien geht die Debatte um Meinungsfreiheit und die vermeintlichen Grenzen von Satire nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo weiter.

Zwei Tage nach den Morden in der Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo sitzt Pat Carras Comic-Figur nachdenklich vor ihrem Skizzenblock: Ob sie wohl noch sagen dürfe, sie sei nicht Charlie? »Ich fühle mich nicht gut«, gesteht die italienische Karikaturistin in einem der Zeichnung beigefügten Text, den die vom Mailänder Frauenbuchladen herausgegebene »acetylsatirische« Onlinezeitschrift Aspirina veröffentlichte. »Plötzlich richten sich die Scheinwerfer auf die Satire, in dem grellen Licht verlieren sich alle Schattierungen und Nuancen.« Carra erschrickt über die Bleistifte, die sich in scharf gespitzte Bleigeschosse und ausgestreckte Mittelfinger verwandeln. Auf vielen Zeichnungen ihrer Kollegen verläuft die Tinte in riesigen Blutlachen.
Gipi, der international preisgekrönte Comicautor Gian Alfonso Pacinotti, entwarf für die Titelseite der Sonntagsbeilage der Tageszeitung La Repubblica ein leeres Blatt, über das eine Blutspur wie eine Träne rinnt. In den Artikeln mischten Roberto Saviano und andere berühmte Namen des linksliberalen italienischen Journalismus ihre Trauer jedoch bereits wenige Tage nach dem Massaker mit Reflexionen über die »Grenzen« der Meinungs- und Pressefreiheit. Nur auf einer Seite fand sich eine briefmarkengroße Reproduktion eines Charlie-Titels mit Mohammed-Karikatur.

Carra erinnert in ihrem Text an Silvio Berlusco­nis Regierungszeit, in der satirische Fernsehprogramme abgesetzt und Zeitungsrubriken zensiert wurden, ohne dass die Verteidiger der Demokratie aufmarschiert wären. Jetzt werde ihr schwindlig beim Gedanken, dass ausgerechnet Zeichnerinnen und Zeichner, die für ihre Arbeiten kaum noch oder gar nicht mehr bezahlt werden, zu Helden der Freiheit ernannt würden. »Wir taumeln zwischen Armut und Märtyrertum, zwischen Arbeitslosigkeit und posthumer Verehrung.«
Die Tageszeitung Corriere della Sera bot Mitte Januar eine 300 Seiten starke Buchbeilage mit dem Titel »Je suis Charlie – Bleistifte zur Verteidigung der Pressefreiheit« an. Die Sammlung enthielt Karikaturen, die als Hommage auf die getöteten Zeichner in den Stunden nach Bekanntwerden des Mordanschlags veröffentlicht worden waren. Auf die Publikation blasphemischer Zeichnungen und jener Charlie-Karikaturen, »die als besonders beleidigend gelten«, wollten die Herausgeber jedoch ausdrücklich verzichten, denn es gebe »Empfindlichkeiten, die respektiert werden müssen«. Die Buchbeilage wurde zum Skandal. Für Aufruhr sorgte in der italienischen Comicszene allerdings nicht die Schamlosigkeit, mit der der Corriere die ermordeten Zeichner der Respektlosigkeit bezichtigte und gleichzeitig ihren Namen für eigene Propagandazwecke missbrauchte, sondern die Dreistigkeit, die Karikaturen ohne Rücksprache mit den Autorinnen und Autoren publiziert und dabei zumeist direkt von deren Facebook-Seiten in entsprechend schlechter Auflösung übernommen zu haben. Gestritten wird seither nicht mehr über Meinungsfreiheit, sondern über Urheberrechte. Da der Erlös der Zeitungsbeilage für die Redaktion von Charlie Hebdo bestimmt war, dürfte es zu einer außergerichtlichen Einigung kommen. Einige der Zeichnungen sind seit 7. Februar offiziell in einer bis Mitte März geöffneten Ausstellung des Mailänder Comic-Museums zu sehen, zusammen mit einer Dokumentation zur Geschichte von Charlie Hebdo.

Doch nicht nur Massenmedien heuchelten Solidarität. Vauro Senesi, der seit einigen Jahren für die Tageszeitung Il Fatto Quotidiano zeichnet, trat in seiner Rolle als TV-Karikaturist in einer politischen Talkshow mit einem »Je suis Charlie«-T-Shirt auf. Seiner toten Kollegen gedachte er mit einer Variation des in den siebziger Jahren in der italienischen Anarchoszene beliebten Bakunin-Zitats »Ein Lachen wird es sein, das Euch beerdigt«, indem er seiner vor vier Gräbern stehenden Comic-Figur das Versprechen in den Mund legte: »Ein Lachen wird euch wieder ausgraben!« Tatsächlich aber hatte Vauro bereits 2006 die dänischen Mohammed-Karikaturen als »tragische Repräsentation des schlechten Geschmacks« bezeichnet und mit den rassistischen Karikaturen der Nazis verglichen. Nach dem Brandanschlag auf die Redaktionsräume von Charlie Hebdo im November 2011 distanzierte er sich von seinen bedrohten Kollegen, deren »hässlicher, bärtiger Mohammed« habe nichts mit Satire zu tun. Als er nun in den sozialen Medien für seine nachträglich zur Schau gestellte Solidarität als Opportunist beschimpft wurde, verwies er zu seiner Verteidigung darauf, er habe während des Afghanistan-Kriegs die Wände eines von der Hilfsorganisation Emergency betriebenen Krankenhauses bemalt und damit den »Obskurantismus der Taliban« herausgefordert. Es ist jedoch kaum vorstellbar, dass seine antiamerikanischen und antiisraelischen Karikaturen, mit denen er in jenen Jahren noch die Titelseiten der linken Tageszeitung Il Manifesto schmückte, den islamischen Gotteskriegern hätten missfallen können. Keine seiner ohnehin seltenen Mohammed-Karikaturen ist islamkritisch. Typisch ist eher seine jüngste Mohammed-Zeichnung, in der es nicht um Religion, sondern um einen banalen Konkurrenzkampf unter Männern geht: Ein Attentäter beschwert sich bei seinem Propheten, dass vier Franzosen im Paradies angekommen seien und seine Jungfrauen vögelten.

Der Tenor dieser Karikatur passt zur Erinnerung, die Georges Wolinski zuteil wird. Er war in Italien der bekannteste der vier getöteten Zeichner. Weniger wegen seiner in jedem Nachruf mit patriotischer Idiotie hervorgehobenen franco-italienischen Mutter. Berühmt wurde er wegen seiner frühen Zusammenarbeit mit der legendären italienischen Comic-Zeitschrift Linus, die 1969 dem französischen, von Wolinski mehrere Jahre geleiteten satirischen Monatsheft Charlie Mensuel als Vorbild gedient haben soll. In den siebziger und achtziger Jahren veröffentlichte Linus Wolinskis erotische Comic-Geschichten, besonders beliebt war seine zusammen mit Georges Pichard entworfene Serie »Paulette«. Die aktuelle Februarausgabe von Linus widmet ihm eine 32seitige Beilage »Wolinus«, in der vor allem der »Libertin« Wolinski gewürdigt wird. Einen Monat nach den Morden scheint die (Selbst-)Zensur im Hinblick auf religionskritische Karikaturen in Italien Konsens zu sein.
Auf Nachfrage der Jungle World betont Carra, dass die Zweifel an der Identifikation mit Charlie, die sie ihrer Comic-Figur in die Sprechblase schrieb, nicht mit einer grundsätzlichen Ablehnung blasphemischer Karikaturen verwechselt werden dürften. Sie habe nur Distanz zum Ausdruck bringen wollen gegenüber einer Form von Satire, die sie seit einiger Zeit als »phallisches Duell« wahrgenommen habe. Der Satz des getöteten Chefredakteurs Stéphane »Charb« Charbonnier, er ziehe es vor, aufrecht zu sterben, statt auf Knien zu leben, sei ihr seltsam vorgekommen: »Das sind nicht die Worte eines Humoristen.« Karikaturen könnten immer jemanden beleidigen, das sei nicht das Problem. Irritiert habe sie die heroische Rhetorik, die Satire doch eigentlich entlarven sollte, und die zunehmende Ins­tru­mentalisierung der Mohammed-Karikaturen für politische und kulturelle Machtansprüche. Vielleicht sei das ein Problem, das nun auch von den Hinterbliebenen reflektiert werde. Dass die Redaktion beschlossen habe, die Publikation der Zeitschrift erst einmal auszusetzen, sei ein gutes Zeichen. »Es ist ihre erste autonome Entscheidung, nachdem sie von einem Tsunami überrollt worden sind, hier war erstmals wieder ihre Stimme zu hören. Und vielleicht kommen sie mit einer anderen Zeitschrift zurück.«