Schocktherapie

Wir haben früher auch Wandertage gemacht: ins Museum, in die Innenstadt oder in den Stadtpark, Tiere füttern. Wir galten als schwierige Klasse, weil die Schule, die ich als Kind besuchte, nach Maßgabe der frühen achtziger Jahre bereits von den Türken übernommen worden war und sich speziell in meiner Klasse ganze Scharen dieser seltsamen Aliens zusammengerottet hatten: Ersoy, Servet und Zülfiye. Deswegen und weil es bei uns kaum Kinder von Eltern gab, die studiert hatten, galt die Devise, dass eigentlich jede Konfrontation mit uns unbekannten Orten, Tieren oder Kieselsteinen eine Wohltat für unsere vollkommen verkümmerten Gehirnmembranen und also förderungswürdig sei. Dieser Gedanke hat sich bis heute gehalten, gerne wird er auch im Lehrerzimmer der Schule, an der ich jetzt als Lehrerin arbeite, als Begründung für Wandertage angeführt, die hinsichtlich des bei der Organisation zu erbringenden Arbeitsaufwandes der Lehrergesundheit nicht abträglich sind: Picknick in der Hasenheide, Picknick auf dem Tempelhofer Feld, Picknick auf dem Schulhof und Gruselkabinett.
Genau, Gruselkabinett. Ich war auch selbst schuld. Ich hatte der Klasse versprochen, dass ich das Ausflugsziel des ersten und sie das Ziel des zweiten Wandertags aussuchen dürfe. Grober Anfängerfehler. Das ahnte ich, als ich einem Kollegen von der Wahl der Klasse berichtete und er, um einen ernsthaften Gesichtsausdruck bemüht, begütigend gluckste: »Naja, dann haste das auch mal gemacht.« Ich ahnte es noch ein wenig mehr, als Esma bereits beim Anblick des im Kassenraum des Gruselkabinetts aufgestellten, blutig bemalten Gummikopfes zu hyperventilieren begann, worauf wir eine hektisch organisierte Plastiktüte benötigten, um ihre Atmung zu regulieren, und sie es dann vorzog, am Eingang zu warten. Ich ahnte es bis an die Grenze der Gewissheit, als sich Ali, Mehmet und Serkan im Raum der weißen Lady hinter einem Tisch verschanzten und sich weigerten weiterzugehen, bis das Licht eingeschaltet wurde und ich ihnen versicherte, dass alle professionellen Erschrecker sich vorläufig zurückgezogen hätten – in Richtung Eingang übrigens, zu Esma, aber das war nicht so schlimm, wir hatten ja inzwischen eine Plastiktüte. Und ich glaubte, es endgültig zu wissen, als ich gegen Ende des Wandertags die Versehrten zählte, die verheulten Augen, die bleichen Gesichter, die ramponierte Würde, besonders der Jungs. Aber so richtig und wirklich wusste ich es erst ein halbes Jahr später, vor zwei Wochen also, als ich fragte, welche Unternehmung sich die Klasse in diesem Halbjahr wünsche. »Gruselkabinett!« brüllte es mir aus vielen kleinen Kehlen entgegen, »Gruselkabinett! Gruselkabinett!« Und Esma brüllte am lautesten.
Andererseits steht ganz außer Frage, dass etwas passiert ist in den verkümmerten Gehirnmembranen. Etwas Krankes vielleicht, aber immerhin.