Nachruf auf den Philosophen Hermann Schweppenhäuser

Der radikale Aufklärer

Am 8. April ist der Philosoph Hermann Schweppenhäuser gestorben.

Radikale Aufklärung kulminiert im widerwilligen Bündnis mit der Welt, über die sie radikal aufklärt«, formulierte Hermann Schweppenhäuser nachgerade programmatisch in seiner Antrittsvorlesung für die Frankfurter Honorarprofessur 1966. Aufklärung, das hat Immanuel Kant definierend ins Stammbuch der kritischen Philosophie geschrieben, ist »der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Mündig ist der, »der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet; der nicht bevormundet wird«, wie Theodor W. Adorno, Schweppenhäusers Lehrer und Freund, zur selben Zeit, in den sechziger Jahren, schrieb. Radikal sein, das wissen wir nach der berühmten Wendung von Karl Marx, heißt wörtlich: »die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.«
Wir sind also schon mitten im realen Humanismus, der, wenn es um Aufklärung, um Mündigkeit geht, keineswegs bloß rein metaphorisch auf praktische Sinnlichkeit zielt, ergo – noch einmal Marx, diesmal die erste Feuerbachthese – auf »menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis«. Mündigkeit hat mit Sprechen zu tun, insofern auch mit dem Medium der Sprache, dem begrifflichen Denken als bewegter und sich selbst bewegender Geist. Aufklärung indes berührt das ganze Themenfeld der Vi­sualität, die Dialektik von Schein und Sein, inklusive Licht, Erleuchtung, Erhellung des Dunkels – und umgekehrt.
Für Hermann Schweppenhäusers Philosophie bezeichnet das Theorie und Praxis gleichermaßen: Die Theorie – übrigens ja auch ein mit Visualitätsbedeutung gesättigtes Wort (theoria ist Griechisch für Anschauung) – ist kritische Theorie, ausgehend von Adornos und Horkheimers Befund einer Dialektik der Aufklärung und, darin einbegriffen, Walter Benjamins Konzept des dialektischen Bildes. Schweppenhäusers Philosophie kreist von Anfang an um Figuren der Reflexion, der Reflexivität, schließlich Selbstreflexivität. Es ist der Versuch, kritische Theorie aus sich selbst heraus zu begründen, ohne in die Falle des Normativitätspostulats zu tappen, wie etwa Jürgen Habermas und die ihm folgenden Akademiker, für die kritische Theorie bloß eine Forschungsperspektive ist, die nur dann »kritisch« ist, wenn sie sich nach den szientifischen Standards legitimieren kann; wenn also Kritik sich nur dann an ihrem Gegenstand entzündet, wenn dieser wie die Kritische Theorie selbst als normativ begründbares Forschungsvorhaben taugt. Schweppenhäuser – übrigens ein Jahr älter als Habermas – hat dementgegen energisch am Postulat der Kritischen Theorie festgehalten, im Sinne Horkheimers und Adornos, im Sinne Karl Marx’ und im Sinne Kants – als radikale Aufklärung.
Kritische Theorie ist demnach die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Emanzipation, zugleich damit auch, weil Emanzipation nicht ohne weiteres möglich und selbst problematisch ist, Herrschaftskritik. Genau darüber bestimmt sich kritische Theorie als ­Dialektik der Aufklärung, die notwendig Aufklärung, Kritik und Theorie auf sich selbst reflektiert, reflektieren muss, um Aufklärung, Kritik, Theorie überhaupt praktisch denken zu können. Das fordert kritische Theorie unabdingbar als Subjekttheorie, im Sinne einer Theorie, die das Subjekt über sich selbst aufklärt und damit als kritisches Subjekt konstituiert. Seinen Ausgang hat solches Denken in den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen, sein Ziel indes – den Telos – in der konkreten Utopie, nach der die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse auch andere sein können und müssen.
Gerade um eine Denkfigur wie radikale Aufklärung, die sich als aufgeklärte Radikalität reflektiert, nicht in bloßer Redundanz versacken zu lassen, braucht es im ersten Schritt Dialektik, die im zweiten Schritt weitergeführt wird zur Ästhetik, also zu einer Theorie der Wahrnehmung, die von den Bedingungen der Wahrnehmung ausgeht. Hermann Schweppenhäuser hat das in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten zu dezidierten Überlegungen zum Komplex von Sehen, dem Sichtbaren, dem Sehbaren sowie Bild, Bildlichkeit, Abbild und Ausdruck geführt.
In Scheppenhäusers Essay »Wahnbilder und Wahrbilder« heißt es: »Das Sehen steht deshalb im Mittelpunkt Schweppenhäusers Überlegungen, weil von allen Sinnen und sensuellen Charakteren (…) der visuelle, (…) Visualität und visio am stärksten korreliert sein (dürften) mit Ideologizität, sie scheinen geschlagen mit ihrem Gegensinn: die Helle und Klarheit, die der Sinn schafft, mit der Obskurität solcher Helle und Klarheit selber.« Mit anderen Worten: Mehr als andere Sinne läuft das Sehen Gefahr, um das Gesehene betrogen zu werden, weil das, was ist, erst einmal nur scheint. Deshalb, so Schweppenhäuser, sei Wahrheit im buchstäblichen Sinne als Wahrscheinlichkeit zu begreifen. Vermittelt ist solche Dialektik des Sehens durch das Licht, das selbst Aufklärung liefert, aber auch verdunkelt oder überblendend sein kann. Für Schweppenhäuser ist Licht das »Elementare«, das »Medium (so, wie Wasser Medium für den Fisch: das Lebenselement ist)«.
Schweppenhäusers Sprache will im Nach-Denken nachvollzogen sein, Lesen verlangt wie das Denken Reflexion; das heißt mindestens: Lautlesen, Zuhören. Auffällig ist in dem Zusammenhang, dass Schweppenhäuser keine größere monographische Studie veröffentlicht hat; sein Buch »Verbotene Frucht« ist eine Sammlung von Aphorismen und Fragmenten, die weiteren Bücher sind allesamt Textzusammenstellungen, und die meisten der versammelten Texte basieren wiederum auf Vorträgen, also dem gesprochenen Wort. Vortrag, Vorlesung, Lehre – das ist Hermann Schweppenhäusers Philosophie von Anfang an eben auch als Praxis gewesen. Nach seiner Studienzeit und Mit­arbeit am wiedereröffneten Frankfurter Institut für Sozialforschung und Assistenzzeit bei Adorno am Philosophischen Seminar wird der 1928 in Frankfurt geborene Schweppenhäuser 1961 auf Empfehlung Adornos auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg berufen. »Zu dieser Zeit war der erste Lehrstuhl für Philosophie an der mit britischer Unterstützung eingerichteten Pädagogischen Hochschule in Lüneburg, die 1989 in die Universität Lüneburg verwandelt wurde, eingerichtet worden. Das Fach Philosophie baute Hermann Schweppenhäuser in Folge in einer nach außen weithin sichtbaren Form auf, zunächst unterstützt vor allem von Günther Mensching, der ab den frühen siebziger Jahren als Akademischer Rat im Fach tätig war«, schreibt der Lüneburger Kollege Ulf Wuggenig in seinem Nachruf. Deutlich wird, was man von Adornos Engagement in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit auch weiß, dass solche Positionierungen an den Universitäten, an den Akademien und Stiftungen wie auch im Rundfunk damals und noch bis weit über die siebziger Jahre hinaus immer auch kritische Positionierungen waren, das heißt nach der weitgehend misslungenen Entnazifizierung des Bildungsbetriebs in der BRD auch ein Stück nachholende Demokratisierung.
Um Schweppenhäuser herum formiert sich kritische Theorie als Lüneburger Schule. Wolfgang Bock erinnert sich: »Nicht zuletzt Schweppenhäuser und seiner Schülerinnen und Schüler Bemühen um Aufklärung ist es zu verdanken, dass sich in der Provinz eine Entwicklung von einer Garnisonsstadt zu einer Universitätsstadt vollzogen hat.« Was das meint, spiegelt sich im Lehrbetrieb wider, der eben bei Schweppenhäuser alles andere als Betrieb war; über gemeinsame Prüfungen mit Schweppenhäuser in den siebziger Jahren schreibt Bock rückblickend: »In der Zeit habe ich als Beisitzer in nicht unbeträchtlicher Weise mein Philosophiestudium nachgeholt, weil Hermann Schweppenhäuser in den Prüfungen eigentlich weniger prüfte als philosophierte.«
Alle, die Schweppenhäusers Seminare und Vorlesungen besuchten – er lehrte in Lüneburg an der 1986 gegründeten Fakultät Kulturwissenschaften noch lange über seine Emeritierung Ende der neunziger Jahre hinaus –, bestätigen das: Philosophieren gelernt zu haben durch das Philosophieren selbst, also mit praktizierter radikaler Aufklärung als kritische Selbstreflexion; es ging nicht um Schulphilosophie, Auswendiglernen oder Leistungsbeurteilung nach Noten, und erst recht nicht, wozu die Bologna-Reformen die Universität kaputt verwaltet haben: um die Jagd nach Credit points, die an reine Formalitäten geknüpft sind, jedenfalls nicht für reflexive, Formalia beiseite lassenden Denk- und Lernformen vergeben werden.
Schweppenhäusers »Hauptwerk« ist, wenn man so will, die mit seinem Freund Rolf Tiedemann zwischen 1972 und 1999 besorgte Edition der Gesammelten Schriften Walter Benjamins. Was Schweppenhäuser an Benjamin nachvollzog, war ein Materialismus, der sich nicht blind aufs Materielle kapriziert. Eine Essaysammlung zu »Aspekten des Benjaminschen Denkens« (man beachte: »Aspekt« von lateinisch aspectus: »Ansicht«, »Aussicht«, »das Hinsehen«) betitelt Schweppenhäuser: »Ein Phy­siognom der Dinge«. Auch in diesem Band sind es immer wieder Denkfiguren radikaler Aufklärung, die das Lesen begleiten: »Reflektorische Praxis (…) markiert den Fluchtweg, der von den Vorgängen wegführt, der Reflektierte aber kann in sie eingreifen, wie der Harrende bei der Geburt, der mimetisch korrespondiert mit dem, was sich gebären will.«
Auffällig ist überdies, dass sich in Schweppenhäusers Texten immer wieder Formulierungen finden, die auf Solidarität insistieren. Stark ist das Motiv in den Texten, die Schweppenhäuser 1986 unter dem fragenden Titel »Vergegenwärtigungen zur Unzeit?« veröffentlichte. Das Buch liest sich heute als Lebensweg: Es beginnt mit einem Essay »Zur Dialektik der Emanzipation«, es schließt mit Erwägungen »Zum Problem des Todes«. Radikale Aufklärung mündet hier in der Forderung, dass »durch die Solidarität der Sterblichen das Leben human werden soll«.