Berlin Beatet Bestes. Folge 291

Der Kanon des schlechten Geschmacks

Berlin Beatet Bestes. Folge 291. Auktion/Destruktion.

Meist schreibe ich in dieser Kolumne über Schallplatten aus den 50-Cent-Kisten der Trödel- und Plattenläden. Seit vielen Jahren sammle ich schwer verkäufliche und ­zugleich seltene Platten, erst osteuropäischen Beat und Twist, dann Flexi-Discs, Werbeplatten und Privatpressungen und derzeit Dixieland- und Jazz-Singles. Heute will niemand das Zeug haben, morgen kommen doch noch andere Sammler auf den Geschmack und übermorgen bieten es schließlich auch die professionellen Händler an. Und erhöhen die Preise. Es ist immer die gleiche kapitalistische Dynamik: Billig kaufen, solange es keine Nachfrage gibt, und dann teuer verkaufen. Ich bin aber kein Kapitalist und verkaufe nichts. So häuft sich Material an, auch vieles, das ich nicht mehr haben will. Meine Freundin hasst den ganzen alten Plunder sowieso. Wie also das ganze Zeug loswerden?
»Top oder Flop« nannten sich die Plattenversteigerungen in der Hamburger Kneipe Komet, bei der Platten aufgelegt, sofort versteigert und, wenn niemand bot, an Ort und Stelle zerbrochen wurden. Vor einigen Jahren übernahmen mein Freund Frank und ich diese Idee. Am Samstag fand mal wieder eine unserer Versteigerungen mit dem Titel »Auktion/Destruktion« in der Neuköllner Kneipe Alter Roter Löwen Rein statt. Mit 150 zerstörungsreifen Platten in der Kiste bauten wir uns auf der kleinen Bühne des Hinterzimmers auf. Zu Beginn trug Franky noch einige seiner neuen Songs vor. Sehr gut kam vor allem sein Lied vom niesenden Dealer aus dem Görlitzer Park an.
Bei unseren Auktionen kommt hauptsächlich Massenware unter den Hammer – die millionenfach hergestellten Ergüsse von Rex Gildo und Co., die noch immer die Trödelkisten dominieren. Aber was ist mit »Herzilein« von den Wildecker Herzbuben? Darauf können sich sowohl 50jährige als auch 25jährige einigen: zerstören. Was ist mit »Ein bisschen Frieden« von Nicole? Wird verkauft. Für das Startgebot: zehn Cent. Roy Blacks »Zeit für Zärtlichkeit« – eine seiner letzten Singles, bevor er 1991 verstarb – mit diesem grauenhaften Plastik-Schlager-Beat der frühen Neunziger? Verkauft. Modern Talking »You’re My Heart, You’re My Soul«? Verkauft. Empörend! Es wird auf alles geboten, jeder will eine Platte mitnehmen, obwohl die meisten gar keinen Plattenspieler mehr haben. Ich kündige »Live is Life« von Opus ausdrücklich als meine meist gehasste Single an und darf sie doch nicht zerstören. Verkauft. Dann zerbrechen wir doch noch Singles von Die Westfälischen Nachtigallen, Roger Whittaker und zum Glück auch »Moonlight Shadow« von Mike Oldfield.
Dennoch, die Destruktionsausbeute bleibt an diesem Abend leider gering. Vermutlich hätte ich hier alle meine geliebten, schlechten Privatpressungen, die niemand kennt oder mag, anbieten müssen. Eine Privatpressung eines Schlagersängers würde ich aber nie zerbrechen, noch nicht mal eine furchtbar schlechte. Die behalte ich lieber. Der Kanon des schlechten Geschmacks funktioniert im Rahmen der Auktion leider nur innerhalb dessen, was bekannt ist.
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.