Der allerletzte »Baal«

Die Grenzen künstlerischer Freiheit

Das diesjährige Theatertreffen endete mit einem Skandalstück: Frank Castorfs Bearbeitung von »Baal« wurde zum letzten Mal aufgeführt. Die Erben Bertolt Brechts unterbinden juristisch, was ihnen ästhetisch nicht gefällt.

So eindrucksvoll das 52. Theatertreffen im Berliner Haus der Festspiele am 1. Mai auch begann, nicht alle zeitgenössischen dramatischen Texte konnten so überzeugen wie Elfriede Jelineks Stück »Die Schutzbefohlenen«, das die politische Situation von Flüchtlingen in Europa und deren Protest zum Gegenstand hat. Ewald Palmetshofers »Die Unverheiratete« erklärt die sexuellen Neurosen der Enkelgeneration aus der vererbten Schuld der Nazi-Großeltern. Das ist erzählerisch wenig plausibel und noch weniger innovativ, zudem wird ein politischer Zusammenhang zu einem bio- und psychologischen Geschehen entstellt. »Die lächerliche Finsternis« von Wolfram Lotz, eine Bearbeitung von Joseph Conrads »Herz der Finsternis« und Francis Ford Coppolas Film »Apocalypse Now«, der sich an Conrads Roman orientiert, zeigt eine gewisse Einfallslosigkeit im Umgang mit den Vorlagen. Als das Bühnenbild geschreddert wird, gibt es den Hinweis: »20 Minuten Pause, wenn Sie wollen« – der aufregendste Moment des Abends. Dagegen ist die Inszenierung von Samuel Becketts »Warten auf Godot« durch das Deutsche Theater Berlin, die unter der Leitung des verstorbenen Dimiter Gotscheff begonnen und von Ivan Panteleev beendet wurde, eine gelungene, der Strichfassung der Beckett-Inszenierung am Berliner Schillertheater aus dem Jahre 1975 folgende Bühnenarbeit.
Am Sonntag dann endete das Theatertreffen mit der letzten Aufführung der spektakulären »Baal«-Bearbeitung von Frank Castorf, der noch die Intendanz der Berliner Volksbühne innehat. Ein Helikopter, Modell Bell UH-1, bekannt aus den Einsätzen des US-Militärs in Vietnam, dominiert die Drehbühne. Das Bühnenbild von Aleksandar Denić zeigt eine nahezu unüberschaubare Fülle an Details, die eine fotorealistische Vietnam-Kriegskulisse schaffen. Baal (Aurel Manthei) durchzieht mit seinem Kumpan Ekart (Franz Pätzold) die Landschaft. »Baal frisst! Baal tanzt! Baal verklärt sich!« Castorf adaptiert Teile des Brecht-Stücks für das »Apocalypse Now«-Szenario und fügt zahlreiche Texte, unter anderem von Arthur Rimbaud, und an prominenter Stelle das Vorwort von Jean-Paul Sartre zu Frantz Fanons »Die Verdammten dieser Erde«, ein. Es geht um die Kritik des bürgerlichen Humanismus und des Kolonialismus, das ist schnell und einfach zu verstehen. Schwieriger zu verstehen ist, was das genau mit »Baal« zu tun haben soll. Brechts Stück, 1918 in der ersten Fassung fertiggestellt, war ein Gegenentwurf zu »Der Einsame« des Expressionisten und späteren SS-Mitglieds und Präsidenten der Reichsschriftumskammer, Hanns Johst, der seinen größten Erfolg mit dem Adolf Hitler gewidmeten Bühnenstück »Schlageter« feierte. Statt der Verklärung des Individuums gegen die Gesellschaft zeigt Brecht in der Tradition Friedrich Nietzsches das freie Individuum als enthemmt – doch mit der Einsicht, dass die enthemmtesten Individuen keineswegs die freiesten sind. Individualität wird nicht als Gegenteil der Gesellschaft, sondern als ihr strukturierendes Prinzip gezeigt, radikale Selbstverwirklichung als Barbarisierung. Castorfs Vorhaben, die Erfahrung des Ersten Weltkriegs in »Baal« mit denen der Kolonialkriege zu verbinden, überzeugt als Idee, ist jedoch als Bühnengeschehen nicht stimmig.
Spektakulär war auch der Rechtsstreit, der auf die Bearbeitung Castorfs folgte. Am 18. Februar wurde vor dem Landgericht München in der Sache Suhrkamp-Verlag gegen Münchner Residenztheater verhandelt – wobei die zwei Protagonisten, Barbara Brecht-Schall als Vorsitzende der Brecht-Erben GmbH, die die Klage angestrengt hatte, und Regisseur Frank Castorf nicht anwesend waren. Es ging in dem Prozess um die Vertragsbedingungen zwischen dem Suhrkamp-Verlag, der Brecht vertritt, und dem Lizenznehmer, in dem Falle das Residenztheater. In dem Vertrag war festgelegt, dass Änderungen am Text, auch und vor allem das Einfügen von Fremdtexten, der Zustimmung des Verlags bedürfen. Erstaunlich ist, dass weder das Theater noch der Verlag – obwohl im Wissen um die Regiemethode Castorfs wie um die strengen Vorstellungen der Brecht-Erben – sich vor der Premiere informierten. Man kann nur mutmaßen, inwieweit diese Missverständnisse auch zweckdienlich waren – ist es doch so, dass Castorf sich als Skandal-Regisseur sicher nicht ganz unwohl fühlt und dass der Verlag und die Erben die Tantiemen kassieren und trotzdem eine tiefgreifende Bearbeitung des Textes nicht dulden müssen. Das Verfahren endete mit einem Vergleich: Das Theater wird die Inszenierung nicht mehr zeigen und trägt die Kosten des Verfahrens, Suhrkamp stimmte zwei letzten Aufführungen zu, einer in München und einer beim Theatertreffen in Berlin.
Wenn es auch in dem Prozess nicht explizit um künstlerische Fragen ging, so ist in der Haltung der Brecht-Erben, und das auch nicht erst in der jüngeren Vergangenheit, eine Tendenz erkennbar. Am Berliner Ensemble wurde eine Neuausrichtung unter der Intendanz von Ruth Berghaus zusammen mit Heiner Müller, Einar Schleef und B. K. Tragelehn in den siebziger Jahren letztlich verhindert. Einar Schleef hatte in den Neunzigern mehrere Auseinandersetzungen wegen der Arbeit an Brecht-Texten. Nicht immer waren die Klagen der Brecht-Erben erfolgreich: Heiner Müller bekam – nach seinem Tod – Recht vor dem Bundesverfassungsgericht für die Verwendung von Brecht-Zitaten in seinem Drama »Germania 3«. Anfang der Achtziger hieß es: »Enterbt die Erben!« Schon damals wurde das Jahr 2026 herbeigesehnt, der Zeitpunkt, an dem die Urheberrechte an Brechts Werk erlöschen. Brecht selbst, konfrontiert mit Plagiatsvorwürfen gegen seine »Dreigroschenoper«, konzedierte sich eine »Laxheit im Umgang mit geistigem Eigentum«; den Erben ist solche Laxheit fremd. Es ist allerdings wenig überraschend, dass im Kapitalismus das Recht auf Eigentum, auch geistiges, über dem der Freiheit der Kunst steht. Die großartige »Baal«-Verfilmung Volker Schlöndorffs mit Rainer Werner Fassbinder war seit der Entstehung 1970 nicht zu sehen, die Vorführung hatte noch Helene Weigel, Brechts Witwe, untersagt. Im vergangenen Jahr konnte man den Film 44  Jahre nach seiner Entstehung im Kino sehen, kurz darauf folgte die DVD-Veröffentlichung.
Die Brecht-Erben argumentieren bei Klagen, so auch bei Castorfs »Baal«, mit der Verletzung der Werkeinheit. Nun wird seit Jahrzehnten auf den Theaterbühnen der Welt kontextualisiert, re- und dekonstruiert, was die Phantasie hergibt. Die Forderung nach einer Werkeinheit auf der Bühne, die der gängigen Inszenierungspraxis entgegensteht, ist ein unvernünftiges, weil rein formales Kriterium zur Beurteilung einer Bühnenarbeit. Wie der Text auf der Bühne verwendet wird und ob diese Verwendung gelungen ist, kann sich nur im Zusammenhang mit allen anderen Elementen beweisen, mit Schauspiel, Bühnenbild, Kostüm, Licht, Musik. Und wenn man die Castorf-Inszenierung auch für misslungen halten mag, so ist das kein Grund, in diesem Fall den Einsatz juristischer Mittel gutzuheißen, wie beispielsweise Christian Gampert im Deutschlandfunk, der das Verbot der Castorf-Inszenierung mit »Es träfe nicht den Falschen« kommentiert. Von einer juristischen Belangung ästhetisch missliebiger oder auch misslungener Werke sollte man absehen.