Hamburg darf gefährlich bleiben

Polizeiliches Sonderrecht

Ein Gericht hat gesetzliche Grundlagen für die Ausweisung von Gefahrengebieten in Hamburg für verfassungswidrig erklärt. Die Polizei zeigt sich unbeeindruckt.

Das Hamburgische Oberverwaltungsgericht (OVG) hat in einem Grundsatzurteil wichtige gesetzliche Grundlagen für die Ausweisung von Gefahrengebieten in Hamburg für verfassungswidrig erklärt. Eine Anwohnerin hatte gegen Polizeimaßnahmen geklagt, die erfolgt waren, als das Schanzenviertel im April 2011 zum Gefahrengebiet erklärt worden war. Sie hatte sich einer Kontrolle unterziehen müssen, ein Aufenthaltsverbot erhalten und wurde in Gewahrsam genommen. Ein Verwaltungsgericht hatte bereits das Aufenthaltsverbot und die Ingewahrsamnahme für rechtswidrig befunden. In der Berufung erklärte nun das OVG die gesetzliche Grundlage an sich für in weiten Teilen verfassungswidrig. Die entsprechenden Bestimmungen des Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei verstießen gegen das Bestimmtheitsgebot und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zudem seien die Voraussetzungen für die Ausweisung von Gefahrengebieten unklar. Das Gericht bemängelte, dass allein die Polizei entscheide, ob und wie lange ein Gefahrengebiet eingerichtet und Personen ohne Verdacht überprüft werden könnten. Diese erheblichen Eingriffe stünden in keinem Verhältnis zur Abwehr abstrakter Gefahren.
Eigentlich hätte das OVG über die Verfassungsmäßigkeit der Gefahrengebiete nicht entscheiden dürfen. Doch die Verfahrensbeteiligten hatten einem obiter dictum des OVG zugestimmt. In diesem »nebenbei Gesagten« hat das Gericht seine grundsätzliche Ansicht über den Einzelfall hinaus dargelegt. Diese Ausführungen sind ein Plädoyer für den Schutz des Einzelnen vor Eingriffen des Staats. Das OVG bemühte explizit die »Abwehrrechte des Bürgers«.
Auch wenn der Ursprung des Verfahrens im Jahre 2011 liegt, haben das OVG offensichtlich die poli­tischen Proteste gegen das Gefahrengebiet im Januar 2014 beeinflusst. Damals hatte die Polizei weite Teile St. Paulis zu einem anfangs unbefristeten Gefahrengebiet deklariert. Entsprechend qualifizierte das OVG in seiner aktuellen Entscheidung Gefahrengebiete wörtlich als »polizeirecht­lichen Ausnahmezustand«.
Doch die Polizei zeigt sich davon unbeeindruckt. Der Landeschef der Gewerkschaft der Polizei, Gerhard Kirsch, hält das Instrument weiterhin für unverzichtbar. Im Bereich der Reeperbahn, der seit Jahren als Gefahrengebiet ausgeschrieben ist, könne nur so die Sicherheit garantiert werden. Ohne die Sonderzone könne die Polizei nicht »im Vorfeld« tätig werden, so Kirsch. Dass genau diese Vorfeldkriminalisierung ohne zeitliches ­Limit ein zentraler Grund für die Verfassungswidrigkeit der Gefahrengebiete ist, will die Polizei nicht begreifen. Sie darf sich der Unterstützung durch die maßgeblichen SPD-Politiker des neuen rot-grünen Senats sicher sein, die sich in kognitiver Dissonanz üben. Weder Bürgermeister Olaf Scholz, der 2001 als Innensenator die später vom Europäischen Gerichtshof als Folter bezeichneten Brechmitteleinsätze zu verantworten hatte, noch der gegenwärtige SPD-Innensenator Michael Neumann lassen Selbstkritik an der von ihren stets verteidigten Praxis erkennen.
Stattdessen dürften beide ohne großen Widerstand des grünen Koalitionspartners daran arbeiten, mit einer Novellierung möglichst viel vom bisherigen polizeilichen Sonderrecht zu retten. Die durch das OVG reklamierten verfassungsrecht­lichen Grundsätze dürften so erneut dem innenpolitischen Ausnahmezustand zum Opfer fallen.