Dubiose Abschiebepraxis in Berlin

Skandale mit System

Berliner Behörden greifen im Umgang mit Flüchtlingen zu dubiosen Methoden.

Im Dezember 2014 wurde die in Berlin geborene Türkin Banu O. wegen schwerer Straftaten und eines fehlenden Bleiberechts aus Deutschland abgeschoben. Zuvor war die Frau mit der Aussicht auf eine mögliche Duldung in die Berliner Ausländerbehörde gelockt worden. Doch die Behörde steckte die Frau ohne Ausweis und ohne Gepäck in ein Flugzeug nach Istanbul, obwohl die 31jährige unter Flugangst leidet und ein Arzt sie für flugunfähig erklärt hatte. Grundlage für die Abschiebung ohne Ankündigung war ein Attest, das Rainer Lerche ausgestellt hatte. Er arbeitet seit 30 Jahren für die Berliner Polizei und andere Behörden. Doch wie das Verwaltungsgericht Berlin im Februar feststellte, hat in dieser gesamten Zeit niemand die Zulassung des angeblichen Arztes gesehen oder überprüft.

Aus Gerichtsakten geht hervor, dass Lerche etwa 50 000 medizinische Gutachten in Abschiebefällen abgegeben hat.Von 2009 bis 2014 begleitete er zudem 30 Abschiebungen. Der Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) begründete im Gespräch mit dem MDR-Magazin »Fakt« die Beschäftigung des angeblichen Arztes als Gutachter der Ausländerbehörde damit, dass dieser zuvor auf Honorarbasis für die Berliner Polizei und die Bundespolizei tätig gewesen sei. Doch keiner dieser Behörden ist nach Angaben des MDR die derzeitige Adresse oder auch nur eine Telefonnummer des Mannes bekannt. Das Berliner Verwaltungsgericht hatte im Februar die Abschiebung der in Berlin geborenen Frau mit türkischer Staatsbürgerschaft nach Istanbul für rechtswidrig erklärt. In der mündlichen Verhandlung trat Lerche als Zeuge der beklagten Ausländerbehörde auf, doch zogen die Richter in ihrem Urteil seine Expertise deutlich in Zweifel. Die Feststellungen des Zeugen seien »unbrauchbar«, er sei »ungeeignet«, urteilten sie. Außerdem, so die Kammer, habe in dem Fall ein Interessenkonflikt bestanden, weil Lerche von der Polizei als medizinischer Flugbegleiter für die junge Frau bezahlt worden sei und er zugleich mit seinem eigenen Gutachten überhaupt erst die Voraussetzungen für diesen Auftrag geschaffen habe.
Die Berliner Polizei beschloss daraufhin, Aufträge und Zahlungen an Gutachter und Begleiter in Abschiebefällen zu überprüfen. Außerdem droht dem Innensenator im Abgeordnetenhaus ein Untersuchungsausschuss. Die Fraktion der Grünen erwägt dessen Einberufung, die Zustimmung der Linkspartei und der Piratenpartei gilt als sicher. Vor allem soll es um die im Prozess infrage gestellte Tätigkeit von Rainer Lerche gehen. Dem Rechtsanwalt Hans-Georg Lorenz zufolge, der erwirkt hatte, dass die Abschiebung von Banu O. für rechtswidrig erklärt wurde, gibt es Zehntausende derartiger Fälle. »Nach unseren Berechnungen hat der Mann mit seinen Gutachten in den letzten 20, 30 Jahren zehn bis 30 Millionen Euro verdient«, so Lorenz zu »Fakt«. Für den Rechtsanwalt steckt hinter der Affäre System.
Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein. Christian Oestmann, Richter am Verwaltungsgericht Berlin, sagte dem MDR, es entstehe gerade in diesem Fall der Eindruck, dass der Gutachter bewusst von den Behörden beauftragt worden sei mit dem Ziel, Abschiebungen zu ermöglichen. Außerdem sei Lerche offenbar wirtschaftlich abhängig von seinen Auftraggebern. »Man hat schon den Eindruck, dass das bewusst genutzt wurde, um möglichst komplikationslos Abschiebungen möglich zu machen«, so Wolfgang Albers, der gesundheitspolitische Sprecher der Linkspartei im Abgeordnetenhaus. Dass Behörden den Mann beschäftigten, ohne sich von seiner fachlichen Kompetenz zu überzeugen, sei grob fahrlässig, befand der innenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Volker Beck.

Canan Bayram, Sprecherin für Integrations- und Migrationspolitik der grünen Fraktion im Abgeordnetenhaus, kritisiert die ständige Überlastung der Berliner Ausländerbehörde und weist darauf hin, dass auch dies möglicherweise System haben könnte. »Innensenator Henkel gibt sich überrascht, dabei hat er die massive Überlastung in der Ausländerbehörde sehenden Auges in Kauf genommen. Bereits im Januar hat die Behörde Henkels Verwaltung informiert, dass die personelle Leistungsfähigkeit im April nicht mehr gegeben sein wird. Unternommen hat der Innensenator jedoch nichts«, so Bayram. Henkel hätte im Hauptausschuss eine Vorlage einreichen und so Soforthilfe beschaffen können. Dies sei aber nicht geschehen. Erst die Untätigkeit des Innensenators habe »nicht nur zum Zusammenbruch der Versorgung von Geflüchteten« geführt, sondern »das bereits bestehende Chaos des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) noch« verschärft.
Die derzeitige Praxis sei menschenunwürdig, so die Abgeordnete. Sie schildert einige Beispiele: Flüchtlinge würden von der Ausländerbehörde abgewiesen, obwohl sie manchmal seit vier Uhr nachts wegen der Verlängerung ihrer Duldung vor dem Gebäude warteten. Manche erhielten lediglich einen Zettel, auf dem dokumentiert sei, dass die Behörde die Anfrage nicht bearbeitet habe. Da aber der Aufenthaltsstatus bei der Entscheidung über Leistungen, wie beispielsweise die Gesundheitsversorgung, durch das Lageso geprüft wird, fallen diese Menschen durch das Raster. Eine Wohnungsvermittlung ist in solchen Fällen ebenfalls ausgeschlossen.
Zugleich greift die Berliner Ausländerbehörde zu weiteren Notmaßnahmen. Wie aus einem ­internen Vermerk des Leiters der Behörde an Innenstaatssekretär Bernd Krömer (CDU) hervorgeht, werden »teilweise entgegen aufenthaltsrechtlichen Vorschriften« Duldungen oder Aufenthaltsgenehmigungen ausgestellt, damit die Antragsteller nicht so schnell wiederkommen. Wie aus dem Vermerk nach Angaben des Tagesspiegel weiter hervorgeht, werden derzeit Duldungen für bis zu 18 Monate ausgestellt, obwohl der Regelfall bei drei bis vier Monaten liegt. Für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis wird auf die vorherige Abfrage bei den Sicherheitsbehörden verzichtet. Ein Sprecher der Innenverwaltung begründet die verlängerte Aufenthaltsgestattungen im Gespräch mit der Zeitung damit, dass »die Asylverfahren in vielen Fällen entgegen der an sich angestrebten Bearbeitungsdauer von drei Monaten tatsächlich sehr viel längere Zeit in Anspruch nehmen«. Angesichts der Überlastung seien solche Maßnahmen »sachgerecht«.

Intern muss das Lageso darüber hinaus auch noch wegen des Verdachts auf Korruption im Amt gegen eigene Mitarbeiter ermitteln. Es geht um das Geschäft mit der »professionellen Wohn- und Betreuungsgesellschaft« (Pewobe), einen privaten Betreiber von Flüchtlingsunterkünften. Zwei leitende Behördenmitarbeiter stehen im Verdacht, die Pewobe bei einem Grundstücksgeschäft in Spandau gezielt bevorzugt zu haben. Helmuth Penz, der Geschäftsführer der Pewobe, hatte das Grundstück nach Angaben der Taz im Mai 2015 für 6,5 Millionen Euro gekauft. Zuvor hatte er bereits die Zustimmung der Behörde ­erhalten, dort eine Unterkunft errichten zu können. Zudem hatte das Amt mit der Pewobe verschiedene Geschäftsmodelle diskutiert, was nach Ansicht der Abgeordneten Canan Bayram eine »unzulässige Vorabsprache« ist. Es laufen Ermittlungsverfahren.