Symbolische Schlacht um die Vorratsdatenspeicherung

Unverdienter Generalverdacht

Die Vorratsdatenspeicherung zielt nicht auf die Aufhebung des Unterschieds ­zwischen privater Kommunikation und ­öffentlicher Rede ab. Staatliche Über­wachung gilt nicht den Ansichten der Staatsbürger, sondern ihren Absichten.

1973 erhob der bis in die neunziger Jahre einflussreiche »Kulturphilosoph« Ivan Illich ausgerechnet das Telefon zum »lebensgerechten Werkzeug« (convivial tool). Mit diesem könne jeder anderen Personen sagen, was er wolle, könne »Geschäfte abschließen, Liebe ausdrücken oder Streit vom Zaun brechen«. Die technologische Struktur der telefonischen Kommunikation mache es Behörden grundsätzlich unmöglich, Art und Inhalt privaten Austausches zu bestimmen, selbst wenn sie temporär störend oder schützend einzugreifen vermögen.
Des einen Hoffnung war aber stets des anderen Befürchtung. Das belegt ein Dokument aus dem argentinischen Ministerium für das Post- und Fernmeldewesen, das 1949 oder 1950 unter der Regierung des Volkstribunen Juan Domingo Peron, nach heutiger Lesart ein »Linkspopulist«, entstanden sein soll. »Die Verwendung des Telefons zum Beleidigen und Kränken«, heißt es darin, »ist ein Verbrechen, das eine Bestrafung durch die Justiz verdient. Der lange Arm des Gesetzes wacht über die Benutzung des Telefons, damit sein edler und sozialer Verwendungszweck nicht missbraucht wird.« Obgleich die Authentizität des Dokuments nicht nachgewiesen ist und sein Duktus eher an den Sarkasmus eines Groucho Marx erinnert, verdeutlicht es grundsätzliche Probleme von Behörden im Umgang mit »Nutzern« der Telekommunikation.

Denn um die Beseitigung des »Missbrauchs« ­eines an sich »edlen und sozialen Verwendungszwecks« geht es bei der staatlichen Überwachung der Telekommunikation nach wie vor. Nur ist heutzutage kein Politiker und kein Polizist mehr so naiv, telefonisch geäußerte Ansichten über Staatschefs und ihre Ehepartner, über das Verhalten von Regierungsmitgliedern und Institutionen, wie beleidigend und kränkend auch immer, unter Strafe stellen zu wollen. Niemand will mehr die private Telekommunikation öffent­licher Rede und Publikation juristisch gleichstellen. Höbe man die Trennung von privater und öffentlicher Kommunikation vollends auf, so würde man auf diese Weise wesentliche Bestandteile des Funktionierens zeitgenössischer kapitalistischer Gesellschaften ebenfalls aushebeln. Die Konkurrenz der kapitalistischen Subjekte, zu deren im gesamtgesellschaftlichen Sinne erfolgreichen Funktionieren stets auch das Verbergen eigener Intentionen vor den wachsamen Blicken anderer gehört, will schließlich vor »Geheimnisverrat« bewahrt sein. Der infinite nationale wie internationale Konkurrenzkampf der Kapitalsubjekte wird vom Staat des Kapitals gewaltsam gestaltet und juristisch gepflegt. Dies schließt die Pflege des Konkurrenzmittels »Geschäftsgeheimnis« zwingend ein. Interessant für eine staatliche Überwachung der Telekommunikation sind daher nicht Ansichten, sondern Absichten. Und hinsichtlich letzterer interessiert sich der Souverän vor allem für solche, die Anlass für den Verdacht bieten, Absender und Empfänger nähmen es mit der gebotenen staatsbürgerlichen Loyalität nicht so genau, gleichgültig ob aus politischem oder rein kriminellem Interesse. In dem vergangene Woche von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf über die sogenannte Vorratsdatenspeicherung wird genau diesem staatlichen Interesse Rechnung getragen.

Bezeichnenderweise werden die durch den Entwurf zwangsverpflichteten Telekommunikationsfirmen, die »Anbieter«, von der Speicherung der ­E-Mail-Kontakte ihrer »Nutzer« und der von diesen aufgerufenen Internetseiten ausgenommen. E-Mails produktiv konkurrierender Staatsbürger zu überwachen, hieße, ihre Inhalte zumindest potentiell einer Öffentlichkeit, wie begrenzt auch immer, zu überantworten und damit womöglich auch der nationalen Ökonomie zu schaden. Die unbehelligte Lektüre von Websites wird dem freien Lesen von Zeitungen gleichgesetzt. Es wäre auch unrentabel, jeden, der linke Zeitungen nach Geschäftsideen durchstöbert, gleich als Ex­tremisten überwachen zu lassen.
Wer aus einer solchen national-ökonomisch inspirierten Überwachung folgerte, beim Souverän handele es sich doch um einen Vertreter unmittelbar identifizierbarer kapitalistischer Interessen, läge freilich falsch: Der Staat fördert die kapitalistische Konkurrenz und verhält sich dabei erhaben über jede moralische Anklage auch realer Schweinereien. Doch Verstöße gegen seine juristisch kodifizierten Spielregeln mag er überhaupt nicht. Bekanntlich kann fast jedes sogenannte Grundrecht durch richterlichen Beschluss aufgehoben werden, und die jederzeit juristisch einwandfrei umzusetzende Aufhebung des Kon­strukts »Privatsphäre«, etwa durch das 1998 verabschiedete Gesetz über den »Großen Lauschangriff«, richtet sich, jedenfalls derzeit, nicht gegen skeptisch philosophierende Hartz-IV-Empfänger, sondern gegen Leute, die erhebliche Teile ihres Geldes als Kapital einsetzen können.
Mit dem Gesetzentwurf über die Vorratsdatenspeicherung hat die Regierungskoalition ›klare Kante‹ gezeigt. Von allen Telefonaten aller sollen »verdachtsunabhängig« die Telefonnummern, die Standorte der Telefone und die Gesprächsdauer für eine Frist von zehn Wochen gespeichert werden. Auch wer wann wem eine SMS geschickt hat, soll gespeichert werden. Als Handlanger werden dafür die »Anbieter« für geringes Entgelt zwangsverpflichtet. Aus der Kombination von Gesprächsort, -zeitraum und Bewegung sollen dann die Verdächtigen von der Masse der Unverdächtigen geschieden und gegebenenfalls strengeren Kontrollen unterzogen werden. Telefonische Verhaltensweisen kann allerdings jeder, der wirklich will, jederzeit so leicht wechseln wie die Telefone und ihre Standorte.
Es ist daher eine symbolische Schlacht, die gegenwärtig um die Vorratsdatenspeicherung ausgetragen wird. Der Staat zeigt, was er kann, was er ist und wozu er demnächst bereit ist. Dass dies nicht besonders viel ist, bestätigen seine Kritiker, die monieren, islamistische Attentate könne man so nicht verhindern. Ein kindischer Einwand angesichts eines Staats, der in solchen Attentaten zwar ein Problem für seine Souverä­nität, aber kein Problem des Islam sieht und auf das Anschmiegen an diesen setzt.

Ebenso kindisch, wenngleich sprachlich wirkungsvoller, ist die Protestnote des Berliner SPD-Landesverbands an den Mitte Juni stattfindenden »Parteikonvent«, die beklagt, alle Europäer würden durch die Datenspeicherung »unter Generalverdacht gestellt«. Das neudeutsche Wort »Generalverdacht«, das haben inzwischen die meisten Medienkonsumenten gelernt, kennzeichnet den Verdächtigenden als üblen Diskriminierer. Wer hätte gedacht, dass dies auch einmal ein Kompliment des unangefochten souveränen Staats an seine schäfischen Untertanen sein könnte.