Die AKP verliert die absolute Mehrheit

Na endlich

Bei den Parlamentswahlen in der Türkei hat Recep Tayyip Erdoğans AKP die absolute Mehrheit verloren.

Die Türkei hat die Kurve gekriegt. Die absolute Mehrheit der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) ist gebrochen. Der Traum des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan von einem Präsidialsystem bleibt un­erfüllt. Die Erleichterung war Anfang dieser Woche überall spürbar. »#Wir lassen es nicht zu, dass du der große Chef wirst« war der geläufigste Hashtag auf den Plattformen der sozialen Medien, der bei diesen Wahlen erstmalig eine breite Opposition aus Kurden, Kemalisten, Anarchisten, Rechten und Linken vereinte. »#Wir haben es nicht zugelassen!« zwitscherte es am Montag durch die Türkei.
Gebannt verfolgten die Vertreter der Taksim-Plattform am Sonntagabend im Szene-Club »Muaf«, einem Treffpunkt der Opposition, die Hochrechnungen. Die Künstlerin Selda Asal hopste auf­geregt von einem Bein auf das andere. Sie hat in Kağıthane, einem der Bezirke, in dem Anhänger wie Gegner der AKP stark sind, die Stimmabgabe beobachtet. »Ich hatte Gebäck mitgenommen, um Spannungen vorzubeugen«, strahlt sie verschmitzt. »Niemand hat sich irgendeine Unregelmäßigkeit erlaubt.«
Das war nicht überall so. Schwedische Wahlbeobachter berichteten, dass sie im südostanatolischen Bingöl mit Waffen bedroht und Wähler ­genötigt wurden, die AKP zu wählen. Überdies benachteiligt das türkische Wahlsystem kleine Parteien, deren Stimmen den großen Parteien zufallen, wenn sie weniger als zehn Prozent erreichen. Doch die Demokratische Partei des Volkes (HDP) kam diesmal mit den Stimmen der Kurden, aber auch von Teilen der Gezi-Bewegung, auf 13 Prozent. Damit veränderte sie die Kräfteverhältnisse entscheidend. Die AKP ist mit etwas über 40 Prozent immer noch die stärkste Partei des Landes, aber vor vier Jahren waren es fast 50 Prozent. Es ist ihr erster schwerer Einbruch, seit sie 2001 an die Macht kam. Die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) erhielt 25 Prozent, die ultranationalistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) 16 Prozent.
Theoretisch könnten CHP, MHP und HDP die AKP nun stürzen und eine Regierung bilden. Doch politischen Differenzen sind dafür zu groß. Vor allem die MHP, aber auch die CHP vertreten tra­ditionell einen türkisch definierten Nationalismus. Das wiederum hatte AKP und HDP in der Vergangenheit einander nähergebracht, denn die AKP hat eine religiöse Ausrichtung. Selda Asal ist Türkin aus Izmir, einer traditionellen Hochburg der CHP. Bei den vergangenen Kommunalwahlen hatte sie noch CHP gewählt. »Die HDP hat sich sehr lange nur die Kurdenfrage auf die Fahnen geschrieben«, sagte sie. »Der Friedensprozess erforderte Verhandlungen mit der AKP. Es kamen dann Sprüche, Erdoğan und Öcalan seien die Führer der maßgeblichen Bewegungen und nichtmuslimische Bevölkerungsgruppen die eigentlichen Minderheiten.« Selahattin Demirtaş, der Vorsitzende der HDP, sprach in diesem Wahlkampf über vielfältige Inhalte. Eine 50prozentige Frauenquote, Kandidaten aller Minderheiten und die Hervorhebung von ökologischen und sozialpolitischen Themen haben die HDP nun für oppositionelle Türkinnen wie Selda Asal wählbar gemacht. In Beyoğlu, dem Zentrum der Gezi-Bewegung, wurde am Sonntagabend gefeiert. »Wir haben es geschafft«, skandierten viele Menschen am Taksim-Platz.