Was geschieht, wenn ein Heimbewohner sein Essen fotografiert und auf Facebook postet

Im Kielwasser des Kloakenfischs

Der Frührentner Jürgen ist auf Pflegeheimkost angewiesen. Seine Fotos der oftmals unappetitlich aussehenden Gerichte präsentierte er auf Facebook. Von links bis ganz rechts reagierte man empört. Jetzt will Jürgen nur noch seine Ruhe haben.

Nach dem Medienhype sind alle unzufrieden: Jürgen, weil er sich instrumentalisiert fühlt, eine Politikerin der Partei »Die Partei«, weil sie nicht ernst genommen wird, und die Unternehmensleitung, weil sie sich zu Unrecht an den Pranger gestellt sieht. Der 63jährige Frührentner Jürgen hat seine Mahlzeiten aus dem Nürnberger Seniorenheim St. Peter fotografiert und die oftmals einfarbig-braunen Gerichte auf seiner privaten Facebook-Seite lakonisch kommentiert (»Pangasius = der Kloakenfisch schlechthin«). Seine Bekannte, Eva-Patricia Rußegger aus Österreich, erstellte die Seite »Jürgen fotografiert sein Essen« und verbreitete die Fotos inklusive Anschrift des Pflegeheims. Dann ging der Shitstorm los, bundesweit berichteten Medien über Jürgens Verpflegung.

Nun distanziert sich Jürgen von der Internetseite. »Was da läuft, war in dieser Form nicht beabsichtigt. Es war als eine für den Freundeskreis interne Aktion, als Antwort auf Spötteleinen diverser Freunde und Kommentatoren gedacht«, teilt er der Jungle World mit. Jürgen wirft seiner Bekannten vor, sie habe sich seiner Fotoserie eigennützig »ermächtigt«. Es sei nie seine Absicht gewesen, dass sie daraus etwas mache, »um von tausenden Klicks ihre Miete zu zahlen«. Rußegger habe »sich voller Stolz bei mir gemeldet. Da hat sie mir ›meine‹ Seite präsentiert mit meinem vollen Namen und dem des Heims samt Adresse. Ich untersagte ihr den Betrieb der Seite, was sie vehement ablehnte.« Eva-Patricia Rußegger ist stellvertretende Vorsitzende von »Die Partei Österreich«. Mit Satire habe ihre Seite jedoch nichts zu tun, sie habe Jürgen einen Gefallen tun und auf den Pflegenotstand in Deutschland aufmerksam machen wollen. »Es ist kein Gag, wir sind keine Satirepartei«, sagte sie Spiegel Online.
Jürgen ist ein lebenslustiger Mensch, der sich in Nürnberg einen Namen als DJ gemacht hat. Unter anderem hat er Acid Jazz in die Frankenmetropole gebracht. Jürgen leidet an chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD), umgangssprachlich als »Raucherlunge« bekannt. Nahrung kann er nur zerkleinert zu sich nehmen. Laut eigenen Angaben wiegt Jürgen nur noch 45 Kilo, die Mahlzeiten seien oft zu klein. Seit Mai wohnt der Grundsicherungsempfänger in dem »Pro Seniore«-Heim. Das Unternehmen ist mit über 17 000 Betten der größte private Betreiber von Seniorenwohn- und Pflegeeinrichtungen in Deutschland.
Nicht nur mit Rußegger hat sich Jürgen verkracht, auch mit der Pflegeheimleitung liegt er nach der Aufregung über die Facebook-Seite im Streit. Zunächst hieß es, Jürgen müsse das Heim aufgrund seiner Veröffentlichungen binnen acht Wochen verlassen, was die Unternehmensleitung jedoch dementiert. Jürgen schreibt: »Ich wurde seitens der Marktmacht von 17 000 Betten darauf hingewiesen, das ich in einem der besten Heime einer sehr guten, seit 30 Jahren erfolgreichen Pflegeheimfirma großes Glück hätte, von ihr bestens betreut zu werden.« Mit seiner »nicht tolerierbaren Facebook-Aktion« habe er, wie Jürgen die Worte der Unternehmensleitung wiedergibt, »auf unverantwortlicher Weise« gehandelt. Der Pressesprecher von Pro-Seniore, Peter Müller, sagte den Nürnberger Nachrichten, Jürgen sei schon vor seinem Umzug in das Pflegeheim unterernährt gewesen und verweigere Aufbaunahrung. Er sei ein schwieriger Bewohner.

Über das Schicksal Jürgens berichtete auch das Neonazi-Portal »Altermedia«, indem es einen Artikel von RT Deutsch kopierte. Den Volkszorn spürt man in den Kommentaren. »Die Renten/Sozialleistungen werden gestrichen, damit noch mehr Geld an die Wall-Street-Juden in New York und Tel Aviv überwiesen werden kann. Die sind viel bedürftiger als deutsche Rentner und Steuerzahler! Schlimm, wie die jüdische Schweinerepublik mit ihren alten Menschen umgeht!« schreibt etwa der User »Nationalsozialist«. Auch Pegida-Agitator Lutz Bachmann kommentierte auf seiner Facebook-Seite Jürgens Verpflegung mit einer ähnlichen Stoßrichtung: »Das Problem von Frührentner Jürgen lässt sich ganz einfach mit drei Worten beschreiben: ›Jürgen ist Deutscher‹ und somit offensichtlich für unsere Regierung nicht würdig, ordentlich verpflegt zu werden.« Auf »Jürgen fotografiert sein Essen« distanzierte man sich davon, dass das Thema Pflegenotstand »bereits vom ›rechten Lager‹ für ihre Bratwurstpropaganda instrumentalisiert wird«.
Seit einigen Tagen werden keine neuen Fotos von Jürgens Mahlzeiten mehr hochgeladen – weder auf Jürgens Privat-Account, noch auf der Seite mit derzeit knapp 35 000 »Gefällt mir«-Angaben. »Da ich als Grundsicherungsempfänger kein Recht habe, mich zu beklagen, wäre es besser, um unangenehme Folgen für mich abzuwenden, jegliche Posts von Fotos auf Facebook zu unterlassen. Ferner habe ich jegliche Posts über meine Befindlichkeit auf Facebook zu unterlassen«, berichtet Jürgen vom Gespräch mit der Heimleitung. Auf »Jürgen fotografiert sein Essen« reagierte man mittlerweile auf die Berichterstattung. »Jürgen hat sich inzwischen von dieser Seite distanziert. Wir Admins haben uns daher entschlossen, diese Seite umzubenennen. ›Wir fotografieren unser Essen – Residenz Seniorenheim/Krankenhaus‹. Wir wollen weiter auf die Missstände im Pflegesystem aufmerksam machen«, heißt es dort. Bei der Seite gehen nun Fotos von Heimmahlzeiten aus der ganzen Republik ein.