Die Folgen der griechischen Finanzpolitik

No means no?

Mit dem Referendum hat sich die griechische Regierung den Rückhalt der Bevölkerung gesichert. Das »Oxi« (Nein) gibt ihr nun das Mandat für neue Verhandlungen und bestätigt Syrizas bisherigen Kurs.

Als es gerade so schien, als hätten die griechische Regierung und die sogenannte Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) endlich eine Übereinkunft erreicht, brach wieder das große Chaos aus. Die Verhandlungen wurden abrupt beendet, Griechenland wies das letztes Angebot der Troika zurück und am 27. Juni kündigte Ministerpräsident Alexis Tsipras ein Referendum für den 5. Juli an, das weithin (zu Unrecht) als Abstimmung über den weiteren Verbleib des Landes in der Euro-Zone interpretiert wurde. Zu allem Überfluss wurden bis zum Referendum auch noch die Banken geschlossen und Kapitalverkehrskontrollen eingeführt, die Geldtransfers ins Ausland unterbinden und Abhebungen an Geldautomaten auf 60 Euro pro Tag begrenzen.
Um zu verstehen, wieso es ausgerechnet jetzt, da offenbar die Einigung kurz bevorstand, zu diesem Schlamassel gekommen ist, muss man jenseits der Gerüchte, Statements und des Social-Media-Lärms das Gesamtbild betrachten. Eines war in den letzten fünf Monaten der Verhandlungen klar geworden: Es ging nicht mehr um das Ende der Sparpolitik, wie viele Linke nach Syrizas Wahlsieg albernerweise meinten, ohne einen Blick auf das sehr bescheidene Programm der Partei zu werfen, sondern um deren genaue Form. Das ständige Streiten um technische Details (Muss der primäre Haushalstüberschuss bei einem oder 1,2 Prozent liegen? Wird die Mehrwertsteuer um 0,6 oder 0,8 Prozentpunkte erhöht?) zeigte, wie wenig sich alle Beteiligten um die materiellen Folgen solcher scheinbar neutralen Kennziffern für die griechische Bevölkerung scheren. So oder so werden Reallöhne und Renten sinken, die Steuerlast wird steigen und die Rezession wird sich weiter verschärfen.

Das Spektakel der vermeintlich harten Verhandlungen nutzte sich allerdings ab, weil es für Syriza immer schwieriger wurde, das Bild eines »Kampfs um die Würde« aufrechtzuerhalten. Dass unter Syriza die lukrative Abfallentsorgung im Norden Griechenlands Leonidas Bobolas, einem der reichsten und einflussreichsten Kapitalisten im Land, übertragen wurde, Siemens einen kommunalen Auftrag verlängert bekam, obwohl sich das Unternehmen wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht verantworten muss, und Steuererhöhungen für Reeder für »verfassungswidrig« erklärt wurden, war für die Partei kaum hilfreich.
In dieser Situation wäre die sich abzeichnende Einigung in Griechenland schwer durchsetzbar gewesen. Eben darauf wies niemand anderes als die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hin: Als das Abkommen unterschriftsreif war, erklärte sie, die wirkliche Frage sei, ob es im griechischen Parlament durchkommen werde – ob also Tsipras die Zustimmung seiner eigenen Partei garantieren könne. In diesem Augenblick wurde klar, dass dies eher unwahrscheinlich war. Angesichts dessen lässt sich das neue Angebot der Troika für Syriza als besonders risikant deuten. In letzter Minute brachte sie einige Maßnahmen ins Spiel, die Syriza bereits zuvor abgelehnt hatte, obwohl das griechische 47-Punkte-Papier schon drastische Sparmaßnahmen enthält. Plötzlich sah sich Syriza wieder in der Rolle der rebellischen Linksregierung und die Troika erschien erneut als unnachgiebig neoliberales Gläubigerkartell.

Vom 27. Juni an erinnerte die Partei wieder an die verwegene Truppe, als die sie im Wahlkampf aufgetreten war: Trotzig wurden »nicht zu überschreitende rote Linien« gezogen und die antidemokratischen Prozeduren der Euro-Zone angeklagt. Der Unterschied war nur, dass Syrizas »rote Linien« inzwischen eine Fortsetzung der Austerität inklusive Rentenkürzungen, Steuererhöhungen und Privatisierungen ausdrücklich einschlossen. Finanzminister Yannis Varoufakis hatte dies wenige Wochen zuvor in einem Artikel unmissverständlich klargestellt: »Unsere Regierung ist stark an der Implementierung einer Agenda interessiert, die sämtliche von europäischen Denk­fabriken vorgeschlagenen Wirtschaftsreformen umfasst. Zudem sind wir in einzigartiger Weise in der Lage, die Unterstützung der griechischen Öffentlichkeit für ein solides Wirtschaftsprogramm sicherzustellen. Man bedenke, was das heißt: eine unabhängige Steuerbehörde; vernünftige primäre Haushaltsüberschüsse für alle Zeiten; ein sinnvolles und ambitioniertes Priva­tisierungsprogramm, verbunden mit einer Entwicklungsagentur, die öffentliche Güter zur Ge­nerierung von Investitionsflüssen nutzt; eine wirkliche Rentenreform, die die langfristige Tragfähigkeit des Sozialsystems gewährleistet; Liberalisierung der Märkte für Güter und Dienstleistungen, und so weiter.«

Das Referendum diente offenbar dem Zweck, diese »Unterstützung der Öffentlichkeit« aufrechtzuerhalten. Dieser Schritt, der allseitig für Überraschung sorgte, ist recht aufschlussreich. Bei dem Referendum sollten die griechischen Bürger den Vorschlag »der Institutionen«, wie die Troika inzwischen offiziell heißt, vom 25. Juni annehmen oder ablehnen – nicht den Gegenvorschlag von Syriza oder einen der vielen anderen Troika-Vorschläge der vergangenen fünf Monate. Das hat sehr konkrete Implikationen.
Was ein »Ja« bedeutet hätte, liegt auf der Hand: Die Mehrheit der griechischen Bevölkerung hätte sich bereit erklärt, der Troika weiterhin die Macht über die Wirtschaftspolitik zuzugestehen, während die Regierung wieder auf ihre vormalige Rolle reduziert worden wäre, bereits getroffene Entscheidungen hastig zu ratifzieren.
Das »Nein« dagegen, für das Syriza geworben hat, ist mehrdeutiger. Es schließt die Befürworter eines Austritts Griechenlands aus dem Euro ebenso ein wie diejenigen, die weiter verhandeln wollen, sowie andere, die einen »ehrbaren Kompromiss« annehmen würden, der etwas weniger Austerität bedeutet, annehmen würden, und noch allerlei Zwischenpositionen.
Für den Fall, dass die Mehrheit mit »Ja« stimmt hätte, hatte Syriza bereits den Rücktritt von der Regierung angekündigt: Man werde die demokratische Entscheidung respektieren, sie aber nicht selbst implementieren. Dies hätte höchstwahrscheinlich eine aus Nea Dimokratia, Pasok und Potami bestehende Koalitionsregierung zur Folge gehabt, die die harschen Sparmaßnahmen des jüngsten Troika-Vorschlags dann hätte umsetzen dürften. Syriza wäre in die komfortable Rolle einer sehr starken Oppositionspartei geschlüpft, bis die Übergangsregierung Neuwahlen ankgeündigt hätte – die aller Wahrscheinlichkeit nach Syriza gewonnen hätte.
Nun, da die Mehrheit mit »Nein« gestimmt hat, hat Syriza mehr oder weniger freie Hand, dieses Ergebnis nach Belieben zu interpretieren – zugunsten eines Euro-Austritt und der Rückkehr zur Drachme (auch wenn Syriza ausdrücklich erklärt hat, dies nicht zu beabsichtigen), erneuter Verhandlungen (auf Grundlage ihres 47-Punkte-Programms oder vom Punkt null an) oder im Sinne einer »kreativen Mehrdeutigkeit«, um einen anderen Deal zu erreichen.
Kurz gesagt stellt sich die Lage für Syriza als Win-win-Situation dar, was den wichtigsten Oppositionsparteien nicht entgangen ist. Nachdem sie vergeblich auf eine Absage des Referendums gedrängt haben, betrieben sie einen schrillen Propagandakrieg, der eine schroffe Polarisierung der Gesellschaft bewirkte und dem »Nein«-Lager Stimmen zutrieb.
Dass die europäischen Verhandlungspartner von dieser Entwicklung tatsächlich überrascht worden sind, mag man glauben oder nicht. Ihre Reaktion ist bislang jedenfalls eher entgegenkommend ausgefallen: das Ausbleiben der fälligen Zahlung an den Internationalen Währungsfonds wurde offiziell nicht als Staatspleite gewertet und die Einführung von Kapitalkontrollen nicht als direkter Weg zum Euro-Ausstieg. Stattdessen wird unablässig beteuert, man werde sein Möglichstes tun, um Griechenland in der Euro-Zone zu halten.
Die einzige Ausnahme scheint Deutschland zu sein, dessen Standarderzählung über die griechische Krise zum Bumerang werden könnte. Die unablässige Propaganda über die faulen Griechen, die mit hart verdientem deutschen Geld gefüttert werden, ohne irgendwelche vereinbarten Reformen umzusetzen, hat bei vielen Deutschen das Bedürfnis geweckt, Griechenland aus der Euro-Zone zu werfen. So nützlich dieses Märchen bislang gewesen sein mag, nun könnte es nach hinten losgehen. Merkel könnte sehr bald gezwungen sein zu erklären, dass Deutschland in genau einem Fall sein Geld verlieren und tatsächlich für die Krise zahlen wird: nämlich wenn Griechenland aus dem Euro ausscheidet.

Aus dem Englischen von Felix Kurz.