My Generation – Die Geschichte der Mods. Teil 1: Alle Spuren führen nach Soho

Hauptsache, du siehst gut aus

Die Mods stellten Stil über Schichtzugehörigkeit, machten die Moderne zur Mode und ließen die Vergangenheit hinter sich.
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Es ist beileibe nicht so, dass Hervorbringungen der Retro-Industrie immer furchtbar sein müssen. Einiges davon, was sie in den vergangenen Jahren wieder ausgegraben hat, kann sich durchaus sehen lassen: Klassisch-moderne Designs wie Polka Dots, Gingham-Karo oder Hahnentritt sind wieder da, ebenso klare Linien und geometrische Kontraste, enge Hemden mit Button-Down-Kragen und nicht minder enge Hosen, nicht zuletzt die typische M51-Parka oder das ebenso typische Harrington-Jacket. Also allesamt Insignien der Frühgeschichte des Pops, die sogleich an James Dean, Alain Delon, Beat, Soul, Fußball, das London der Sechziger denken lassen – und damit auch an die erste Jugendkultur, die als solche bezeichnet werden kann, weil in ihr generationelle Zugehörigkeit und musikalisch-modischer Habitus den individuellen Lebensstil wohl zum ersten Mal in der westlichen Sozialgeschichte mehr bestimmten als die Zugehörigkeit zu ­einer bestimmten sozialen Schicht oder ethnischen Gruppe. Und selbst die Geschlechtergrenze wurde hier unscharf wie wohl kaum jemals zuvor. In dieser Jugendkultur avancierte der Männerkörper zum bevorzugten Objekt modischer Bemühung, umfasste das Stilideal der sharpness beide Geschlechter gleichermaßen und vereinte reduktionistische Eleganz mit freier Beweglichkeit; nicht umsonst stammten die meisten ihrer modischen Neuerungen aus der Welt des Sports: Den Button-Down-Kragen hatten ursprünglich Polo-Spieler erfunden, das Polohemd hingegen stammte aus dem Radsport, die Kleider orientierten sich am Tennis, die Jacken waren dem Baseball entlehnt.
So gewandet stürmten sie in den Sechzigern auf die Bühne der Popgeschichte: die Mods, lebenshungrige teenage dandies aller Klassen und Hautfarben, geeint und angetrieben von Rhythm ’n’ Blues. Die sogenannte Schlacht von Brighton 1964, später in der Rockoper »Quadrophenia« von The Who unvergesslich in Ton und Bild gesetzt, wurde zum Fanal dessen, dass nach dem Auftritt der Mods nichts mehr so sein würde wie vorher, nicht in England und auch nicht in der restlichen westlichen Welt.
Der Begriff Mod selber entstand als Abkürzung für modernists, was einerseits auf das Faible der allerersten britischen modernists für den Jazz eines Miles Davis, John Coltrane oder Thelonious Monk zurückgeht, andererseits aber noch viel mehr transportiert: eine radikale Gegenwärtigkeit, die sich absolut identifizierte mit dem ästhetischen Bruch, den die Moderne sich anschickte, in allen Kino- und Konzertsälen, Wohnzimmern und Kleiderschränken, Stadtsilhouetten und Verkehrsmitteln zu verwirklichen. Dass diese Ära, die sich in der Jugendkultur der Mods im wahrsten Sinn des Wortes verkörperte, immer wieder sich erneuernde nostalgische Sehnsüchte anzieht, dass ihr Stil immer wieder aufgegriffen wird, verdankt sich wohl nicht zuletzt dem Umstand, dass sie selber kein Retro kannte, dass ihr nichts fremder als Nostalgie war, dass das, was das Morgen mit dem Gestern anstellen würde, unendlich viel interessanter war als der umgekehrte Fall – also, wie das Gestern das Morgen bestimmt.

Diese Geschichte hat viele Anfangspunkte, zeitlich wie räumlich. Wollte man weit ausholen, könnte man sie beginnen mit den Dandys der englischen Spätromantik, wie Lord Byron beispielsweise, die wie ihre betont individualistischen literarischen Figuren aus der hergebrachten Gesellschafts- und Geschlechterordnung Englands heraustraten. Beginnen könnte man sie aber auch mit Fred Perry, dem ersten Wimbledon-Sieger (1934–36) aus der Arbeiterklasse und späteren Modeschöpfer. Wollte man hingegen breit ausholen, rückten, nach Maßgabe der ästhetischen Einflüsse, kontinentaleuropäische Orte in den Blick: Dessau beispielsweise (als Stadt des Bauhauses), Mailand (als Heimat des Futurismus’ und Herkunftsort der Gaggia-Espressomaschine sowie als Zentrum der italienischen Modeindustrie), Pontedera (als Stammsitz des Roller-Herstellers Piaggio) und last but not least Paris (als traditionelle Hauptstadt sexueller Libertinage und weiblicher Kurzhaarschnitte sowie als Kulisse des Nouvelle-Vague-Kinos).
Doch wichtiger als Europa war natürlich Amerika, genauer gesagt, die musikalischen Revolutionen, die von dort nach England übergriffen. Das taten sie viel leichter als überall sonst in Europa, da es keine Sprachbarriere, vor allem aber kein kulturelles Ressentiment zu überwinden galt. Nicht, dass es im Großbritannien der Fünfziger keine besorgten Vorbehalte gegeben hätte gegen Elvis und den Rock ’n’ Roll. Aber die Bedingungen waren eben doch ganz andere als in Kontinentaleuropa, insbesondere in Deutschland, und das in vielerlei Hinsicht: Grundsätzlich war die Chimäre einer einheitlichen Volkskultur der überaus klassendistinktiven (und an nichtweiße Bürger zumindest in London früh gewöhnten) britischen Gesellschaft ohnehin fremd, die gehobenen Schichten kümmerten sich nicht um die Dancehall-Vergnügungen der unteren Stände, die nicht nur aufgrund der gemeinsamen Sprache Großbritanniens und der Vereinigten Staaten besonders offen waren für das, was man heute unter Traditional Jazz versteht. Denn in gewisser Weise waren der Swing und seine Vorläufer ja keineswegs bloßer Import aus Übersee: In ihnen lebten neben dem bestimmenden afroamerikanischen Einfluss auch typisch britischer brass band sound, die anzüglichen Vaudeville-Gassenhauer der viktorianischen Ära und musikalische Figuren traditionell volkstümlicher Musik fort, wenn auch in ganz neuer Amalgamierung und ganz anderem Gewand. Die Dancehall-Musik im England der Dreißiger und Vierziger nahm den Swing nicht als etwas Fremdes, von außen Kommendes auf, sondern inkorporierte ihn als Eigenes; ein britischer crooner unterschied sich von einem amerikanischen zwar durch Akzent, Idiomatik und oft auch Themenwahl, aber er galt nicht als Importeur von etwas gänzlich Anderem; die Geschichte der populären Musik – zum Beispiel die Konjunktur bestimmter Instrumente wie die des Banjos – zeigte bereits im 19. Jahrhundert eine besondere Parallelität zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich. Das Mississippi-Delta, Chicago, New York, aber auch Nashville lagen in England also schon seit langem um ein Vielfaches näher als irgendwo sonst in Europa. Und diese Musikmetropolen rückten ab 1943 sogar in die unmittelbare Nachbarschaft: In Vorbereitung der alliierten Landung in der Normandie wurden Hunderttausende GIs in England stationiert, nahezu alle Flughäfen im Süden erhielten militärische Funktionen. Amerikanische Armeestationen sendeten ganztägig und amerikanische Platten waren viel leichter als vorher aufzutreiben. Die Anfänge der späteren britischen Blues Explosion lagen in den Spinden der Soldaten von der anderen Atlantikseite.
Die Zutaten, aus denen ab Ende der Fünfziger die Mod-Subkultur entstehen sollte, standen also bereit. Doch wo konnten sich die elitäre Vorliebe für nonkonformistischen Dandyismus und kontinentalen Stil mit der populären, tanzwütigen Jazz-Euphorie des Nachkriegs-Englands vermischen? Dafür gab es im Vereinigten Königreich nur einen Ort: Soho, das traditionelle Boheme- und Halbweltviertel Londons. In dessen Clubs, Kaffeebars und Etablissements sollten sich die verschiedenen Stränge dieser kleinen Vorgeschichte verbinden und binnen kürzester Zeit etwas hervorbringen, wovon Ende der meist tristen Fünfziger – das Ende der Lebensmittelrationierung kam in England erst 1954, dem Jahr, in dem Bill Haley der Welt mit »Shake, Rattle and Roll« den Rock ’n’ Roll schenkte – noch nichts zu ahnen war: Swinging London, die unbestrittene Welthauptstadt des Pop.