23.07.2015
Der Anschlag in Suruç

Kein Frieden für Kobanê

In der nahe der Grenze zu Syrien gelegenen türkischen Stadt Suruç starben mindestens 32 Menschen nach einem Selbstmordanschlag, für den mutmaßlich der »Islamische Staat« verantwortlich ist.

Solidarität mit Kobanê bleibt gefährlich – das ist, knapp gefasst, die Lehre aus dem Anschlag am Montag in der türkischen Grenzstadt Suruç. Ein Selbstmordattentäter sprengte sich im kurdischen Kulturzentrum Amara in die Luft, in dem sich über 300 linke Angehörige der sozialistischen Jugendorganisation SGDF versammelt hatten. Sie wollten von Suruç nach Kobanê, der syrisch-kurdischen Enklave, um dort beim Wiederaufbau der Stadt zu helfen und unter anderem eine Bibliothek und einen Spielplatz zu errichten. Mindestens 32 Menschen starben bei dem Anschlag in Suruç, nach Angaben lokaler Krankenhäuser gegenüber der türkischen Presse wurden 76 teils schwer verletzt. Der Krieg in Syrien hat erneut auf türkisches Staatsgebiet übergegriffen.
Bisher hat sich niemand zu der Tat bekannt. Die meisten politischen Beobachter gehen davon aus, dass der sogenannte Islamische Staat (IS) für den Anschlag verantwortlich ist, auch wenn bisher dafür Beweise oder Indizien rar sind. Nach Angaben der türkischen Zeitung Cumhüriyet wird ein 20jähriger aus Adıyaman verdächtigt, das Selbstmordattentat begangen zu haben.
Der IS ist als Verantwortlicher naheliegend, weil die jihadistische Organisation in Kobanê Ende ­Januar ihre erste große Niederlage erlebt hat und sich seitdem mit Racheaktionen wieder ins Gespräch zu bringen versucht. Das Massaker an Zivilisten in der Stadt Kobanê und einigen umliegenden Dörfern mit Hunderten Toten, das von einem IS-Selbstmordkommando im Juni verübt wurde, diente ebenfalls dazu. Der IS versucht in der symbolträchtigen Schlacht um Kobanê wieder die Initiative zu gewinnen und seine Gegner durch Angst und Schrecken zu paralysieren. Insofern liegt es nahe, hinter dem Anschlag auf die Kobanê-Wiederaufbauhelferinnen und -helfer in Suruç den IS zu vermuten.

Aber auch der türkische Staat wird verdächtigt, zumindest mitverantwortlich für den Anschlag zu sein. So hat nicht nur die PKK unmittelbar nach dem Anschlag darauf verwiesen, dass der IS von der Türkei unterstützt werde. In einer Erklärung der prokurdischen Partei HDP heißt es: »Alle Länder und Regime, von denen Isil (eine andere Abkürzung für den IS, Anm. d. Red.) Unterstützung bekamen, sind Partner dieser Barbarei. Die schweigsam bleiben und ihre Stimme nicht gegen Isil zu erheben wagen, Gouverneure in Ankara, die die HDP alltäglich bedrohen, sind Komplizen dieser Barbarei.«
Nach dem Attentat demonstrierten am Montagabend Tausende Menschen in Ankara, Istanbul und anderen türkischen Städten gegen das Massaker; bei den heftigen Protesten in Istanbul, bei denen Demonstranten dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner Partei AKP vorwarfen, Kollaborateure des IS zu sein, setzte die Po­lizei Wasserwerfer und Tränengas gegen sie ein. Am Dienstag verbot die Gouverneursbehörde in der Provinz Şanlıurfa, in der Sukuç liegt, Demonstrationen und Proteste aller Art. International wurde ebenfalls gegen das Attentat und die mögliche Verwicklung der türkischen Regierung demons­triert, unter anderem in Paris, London, Berlin und Hamburg.
Es ist inzwischen weitgehend anerkannt, dass der IS und andere jihadistische Organisationen in Syrien von der Türkei als Gegenmacht zu PKK-nahen Gruppen in Syrien unterstützt oder zumindest geduldet wurden. Während die faktische kurdische Autonomie in Nordsyrien unter der Hegemonie der PKK-nahen PYD als Gefahr für die türkischen Interessen angesehen wurde, gelten die Landgewinne des IS nicht als Problem.
Dies änderte sich auch nach dem Anschlag im Mai 2013 in der türkischen Grenzstadt Reyhanlı mit 51 Opfern nicht. Diese Tat, die im Kontext der jihadistischen Aktivitäten in der Türkei steht, führte nicht zur Einstellung der türkischen Unterstützung. Stattdessen wurden die Untersuchungen zum Anschlag von der Staatsführung behindert, so dass bis heute die Täter offiziell nicht ­ermittelt sind. Auch sonst wurden eher die bestraft, die die Unterstützung der Jihadisten behinderten: So wurden in mehreren Fällen Angehörige der Polizei, die illegale Waffentransporte nach Syrien stoppten, strafversetzt.

Der türkische Kurs änderte sich langsam mit der Irak-Offensive des IS im Sommer 2014 und der Geiselnahme von türkischem diplomatischem Personal und Lastwagenfahrern durch den IS. Es ist inzwischen für die türkische Staatsführung nicht zu übersehen, dass der IS kaum noch zu kontrollieren ist und sich nicht mehr als bloßes Werkzeug gegen die PKK-nahen kurdischen Akteure in Syrien nutzen lässt. Der IS verfügt mittlerweile über genug Macht und Ressourcen, um eigene Interessen zu verfolgen – im Zweifelsfall auch gegen den Willen der bisherigen Geldgeber und Unterstützer. Die Unkontrollierbarkeit und die Brutalität des IS haben dazu geführt, dass viele, die für seine Entstehung und Stärkung mitverantwortlich sind, inzwischen von ihm abgerückt sind.
Aber die türkische Mitverantwortung für denAnschlag in Suruç lässt sich auch jenseits einer möglichen direkten Zusammenarbeit zwischen dem türkischen Geheimdienst und dem IS festmachen. Die Türkei unternimmt alles, um die Kurden im eigenen Land und in Syrien in Schach zu halten. Dazu gehört nicht nur die Unterstützung der Jihadisten in Syrien gegen die Kurden, sondern auch die direkte Bekämpfung des Projekts Rojava und seiner Unterstützerinnen und Unterstützer in der Türkei. Die kurdische Region in Nordsyrien wird nach wie vor von der Türkei blockiert, der Transport von Gütern jeglicher Art ist erschwert. Hilfsorganisationen, die über die Türkei nach Rojava zu gelangen versuchen, werden schikaniert und hingehalten. Linke, die aus der Türkei nach Rojava gelangen wollen, wurden von türkischen Ordnungskräften angegriffen. Bei diesen Angriffen kam es bereits zu mehreren Todesopfern. Demonstrationen und Kundgebungen gegen das türkische Vorgehen gegenüber Rojava werden oft durch heftige Polizeigewalt aufgelöst. So wurden im Oktober 2014 bei Kobanê-Protesten in der Türkei 40 Menschen getötet.
Der türkische Staat hat sich nicht nur durch seine Politik gegenüber dem Projekt Rojava viele Kurdinnen und Kurden zum Feind gemacht. Auch beim Anschlag am 5. Juni in Diyarbakır auf die Wahlkundgebung der prokurdischen HDP mit mehreren Todesopfern wurde darauf verwiesen, dass der Täter zwar unter polizeilicher Beobachtung stand, aber unmittelbar vor der Tat freigelassen wurde. Dies wird nicht etwa als Fehler der türkischen Polizei, sondern vielmehr als Teil einer staatlichen Strategie gegen die kurdischen Organisationen angesehen.
Deshalb dürfte es für den türkischen Staat schwierig werden, die jetzt aufkommenden Verdächtigungen auszuräumen. Damit die türkische Regierung sich von einer Mitschuld freisprechen kann, bedürfte es eines harten Vorgehens gegen die Strukturen und Unterstützer des IS in der Türkei. Dies ist aber unter der AKP-Regierung recht unwahrscheinlich.