Der wilde Ostberliner Sommer vor 25 Jahren

Aufbau Ost

Nach der Öffnung der Grenze im November 1989 und vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 war der Staat auf dem Gebiet der noch bestehenden DDR fast ein Jahr lang faktisch abwesend. Vor allem Hausbesetzter aus Ost und West nutzten die quasi herrschaftslose Zeit, um ganze Stadtteile unter ihre Fittiche zu nehmen. Aber wäre nicht mehr möglich gewesen in diesem ganz besonderen Jahr?
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Pippi Langstrumpf hat ein eigenes Haus, weder Eltern noch andere Autoritäten kontrollieren ihren Alltag, sie tanzt der Polizei auf der Nase herum und hat einen Koffer voller Geld. Sie kann tun, wonach ihr der Sinn steht. Der Kinderbuchwissenschaftler Klaus Doderer schreibt: »Die Villa Kunterbunt ist wie eine Insel jenseits der verwalteten, eingeschränkten, regelmäßig funktionierenden und damit auch vorausberechenbaren Welt.« Es handele sich in dem Buch von Astrid Lindgren um den »Entwurf von totaler Freiheit«.
Diese »totale Freiheit« war im Frühling und Sommer 1990 in Ostdeutschland Wirklichkeit. Nicht für jeden, selbstverständlich. Die meisten DDR-Bürger sorgten sich in dieser Zeit vor allem um ihr Haus, beziehungsweise ihre Wohnung, ihren Job, um ihre soziale Absicherung, ihre Le­bensplanung, sie waren orientierungslos, ihr Weltbild war zusammengebrochen. Zwar durften sie plötzlich reisen, wohin sie wollten, und der autoritäre Kontrollstaat hatte seine Klauen von ihren Schultern nehmen müssen, dennoch erlebten viele ihre Freiheit zunächst als gravierende Zukunftsangst.
Nicht so die zahlreichen Hausbesetzer. Sie hatten plötzlich eigene Häuser, keine Eltern oder andere Autoritäten kontrollierten ihren Alltag, sie tanzten der auseinanderbrechenden Volkspolizei auf der Nase herum. Und wenn sie aus dem Westen kamen, und es kamen viele aus dem Westen, hatten sie auch ­einen Koffer voller Geld, denn sie tauschten inoffiziell zumindest bis zum 1. Juli 6:1 DDR- gegen West-Mark. Sie konnten also tun, wonach ihnen der Sinn stand. Wie Pippi. Nun, was taten sie? Was tun Linke, wenn ihre Utopie von der herrschaftsfreien Gesellschaft Wirklichkeit wird? Man kann diese polemische Frage polemisch beantworten: Sie ersetzen kaputte Fensterscheiben, eröffnen Kneipen, machen Straßenfeste, gründen Bands, jagen Nazis und versuchen verbissen, mit Institutionen die Legalisierung ihrer Besetzung zu verhandeln, die gerade selbst kaum Legitimation besitzen und nicht wissen, was der nächste Morgen bringt. Man kann die Frage aber auch ernst nehmen. Dann lautet sie: Weshalb wurde ­dieser fast ein Jahr lang dauernde Ausnahmezustand nicht zu mehr genutzt als zur Etab­lierung einer Hausbesetzerkultur in einigen Vierteln von Ostberlin, Potsdam, Dresden und Leipzig?
Dazu muss man natürlich erst einmal konstatieren, dass nicht nur Linke die sich bietenden Freiräume nutzten, sondern auch Neonazis. Auch sie besetzten Häuser, bereits im März 1990 überfielen sie ein linkes Hausprojekt in Berlin-Friedrichshain, viele weitere Angriffe folgten. Die Hausbesetzer hatten also auch Abwehrkämpfe zu führen, nicht wie gewohnt gegen den Staat, dafür gegen Nazis. Die bestehenden Häuser wurden mit Stacheldraht und Falltüren zu regelrechten Festungen ausgebaut, rund um die Uhr saß man an Funkgeräten und wenn irgendwo im Kiez Nazis gesichtet wurden, zog man mit Helmen und Knüppeln los, um sie zu verdreschen. Der damalige Hausbesetzer und spätere PDS-Abgeordnete Freke Over sagte der Jungle World vor fünf Jahren (45/2010): »Wir haben die öffentliche Sicherheit hergestellt. Wir haben originär staatliche Aufgaben wahrgenommen, um die körperliche Unversehrtheit von uns und anderen zu sichern.«
Das also wird aus Anarchisten, wenn der Staat fehlt: Polizisten? Nein, das wäre wieder Polemik. Die meisten Hausbesetzer waren ­anderweitig beschäftigt. Zwar führte die Abwesenheit der Staatsgewalt nicht zur Gewalt­losigkeit im öffentlichen Raum, dennoch war der Alltag in diesem langen Sommer 1990 bei weitem nicht nur militarisiert und destruktiv. Es war, das wird jeder bestätigen, der dabei war, ein unfassbar schöner, spannender, erstaunlicher und in jeder Hinsicht einmaliger Sommer. Tausende Menschen kamen in den Besetzerkiezen zusammen, bunt und neugierig, spontan und lebenslustig. Sie lebten plötzlich in großen Hausprojekten, unabhängig davon, ob jemand Geld hatte oder nicht, lernten sich kennen, übernahmen Verantwortung, fällten demokratische Entscheidungen, bauten die ersten Strukturen einer Zivilgesellschaft auf – wie diverse Infrastrukturprojekte, Volksküchen, Anwohnertreffs, Stadtteilvereine – und mit dem Besetzerrat in Ostberlin ­sogar eine Rätestruktur, welche die Interessen von rund 2 500 Hausbesetzern vertrat.

Die ansonsten kaum bevölkerten Kieze wurden zu einer großen Versuchslandschaft. Gärten wurden angelegt – nicht nur für Hanfplantagen –, Spielplätze für Kinder und Halfpipes gebaut, Kinos, Kneipen, Buch-, Second-Hand- und Info-Läden eröffnet – das alles ohne Genehmigungen, ohne Finanz-, Gesundheits- und Ordnungsamt. Ständig gab es Partys, Theater und Konzerte, wo zuvor reine Ödnis geherrscht hatte. Autobastler, Musiker und bildende Künstler tobten sich aus. »Es gab keine Hierarchien, sondern im Gegenteil Selbstverantwortung«, erklärte Over. Ja. Stimmt. Das war schön. Aber war das links? Und war das wirklich alles, was aus dieser Zeit ohne ernstzunehmenden staat­lichen Souverän zu machen gewesen war? War es nicht vielmehr die Vorwegnahme jener liberalen, kapitalistischen Gesellschaft, die gerade (west-)staatlicherseits auf die ehemalige DDR gepfropft werden sollte?
Die besetzten Häuser waren Eigenheime auf dem Boden des Realsozialismus, in ihnen lebten Menschen, die der Meinung waren, dass die Häuser, in die sie grade eingezogen waren, ihnen gehörten, und sie allein bestimmten, wer dort wohnen und wie das Haus ausgebaut werden sollte. Die Hausbesetzerläden und -kneipen bildeten die Vorhut für die später folgende Gentrifizierung und waren zwar kollektiv verwaltet und unkommerziell, aber dennoch der Beginn des freien Unternehmertums in der DDR. Für viele Besetzer war es ein erhabenes Gefühl, endlich »einen eigenen Laden« zu haben, am Verkaufs- oder Getränketresen zu stehen, Bier, selbstgemachte Falafel, Schmuck oder links­radikale Broschüren zu verkaufen – auch wenn mit diesen Unternehmungen natürlich kaum Gewinn erwirtschaftet wurde.
Joachim Bruhn beschrieb es mal so: »Die ›Gesellschaft ohne Staat‹ (Erich Mühsam) ist der ins Politische gewendete Traum des nichtkapitalistischen Privateigentums, der Logik des Privateigentums zu entkommen, ohne das Kapital aufzuheben.« Nun war in der DDR kein »Kapital aufzuheben«. Im Gegenteil, auch wenn die – spärlichen – Gewinne der Besetzerkneipen und -läden in soziale Projekte oder an die Hausgemeinschaft flossen, also kollektiviert wurden, so waren sie, gerade wenn sie ins Haus investiert wurden – und es gab viel zu bauen damals, um die heruntergekommen Häuser wieder bewohnbar zu machen –, eben doch eher Basis eines »nicht-kapitalistischen Privateigentums« als dessen Aufhebung. Zahlreiche ehemals besetzte Häuser sind später dann ja auch tatsächlich durch die Bewohner privatisiert worden, meist über Genossenschaften. Man kann das als Linker kritisieren, muss man aber nicht. Denn dass die Zustände in Berlin-Friedrichshain heute, selbst nach einer rigorosen Welle der Gentrifizierung, die kaum einen Stein auf dem anderen ließ, besser sind als vor 1989, daran kann kein Zweifel bestehen. Vor 1989 war der Bezirk im Grunde tot, unbeleuchtet, grau, soziales Leben fand nicht statt. Nur im Sommer 1990, da war natürlich alles noch besser als heute! Klar! Aber das war ja auch ein einziges Woodstock. Ein urbanes Woodstock.

Die damals geschaffenen »Freiräume«, die bis heute hier und dort noch verteidigt werden, waren Anlaufpunkt für Menschen, die nicht ins normale Gesicht der Stadt passten, für Punks, Freaks, Globe­trotter und Hippies – für andere Menschen war dort jedoch kein Platz. Nicht für die alten Ost-Nachbarn, die das Spektakel um sie herum beunruhigt oder staunend verfolgten und für die ohnehin gerade alle bisherigen Gewissheiten zusammenbrachen, nicht für Senioren, nicht für Fabrikarbeiter und nicht für Anzugträger. Der »Freiraum« war ein Raum für Menschen einer ganz bestimmten subkulturellen Prägung, die zu Recht ahnten, dass in der eines Tages durchgentrifizierten Stadt für sie kein Raum sein würde, wenn sie nicht jetzt aktiv würden.
Ihren Platz in der Stadt konnten sie sich damals immerhin verschaffen. Mehr aber auch nicht. Wenn schon die dissidenten, kreativen und arglosen Hausbesetzer, die nichts zu verlieren hatten, nicht mehr und nichts nachhaltig Prägendes aus diesem Sommer machen konnten als die Etablierung ihrer eigenen marginalen Subkultur, konnten dann die »normalen« DDR-Bürger das erst recht nicht? Aber hatten sie nicht andererseits gerade ihren Staat entmachtet? Mussten nicht gerade sie wissen, dass kein System so stabil ist, wie es scheint, dass sich alles ändern kann über Nacht? Und waren sie nicht geschult in sozialistischer Geschichte, wussten sie nicht, dass Menschen sehr wohl ihr Schicksal in die Hand nehmen, selber etwas aufbauen können? Das hatte man ihnen doch eingetrichtert. Oder eben auch nicht. Das war zwar der Stoff aus den ­Geschichtsbüchern, der Stoff des Alltags war ein anderer: Anpassung, Obrigkeitsdenken, ­Sicherheit, Konformität. Und dann waren da noch die Verlockungen des Westens, des Konsums, der Reisefreiheit, der politischen Partizipation. Außerdem: ein starker Wunsch, »unter sich« bleiben zu wollen, keine Wessis, keine Ausländer, keine Fremden! Und ganz wichtig: Ein großer Teil der DDR-Bürger wollte ja auch gar nicht, dass sich etwas ändert.

Es gibt also viele Erklärungen, warum die Menschen in der DDR damals nicht den Lauf der Geschichte in ihre Hand nahmen und stattdessen auf Sicherheit und Anpassung an den Westen setzten – oder auf die aussichts­lose Verteidigung des Alten. Doch eines kann nicht als Erklärung dienen: staatliche Repression und Diktatur des Marktes. Also das, womit Anarchisten, Kommunisten und Globalisierungsgegner und all die anderen Weltverbesserer  normalerweise zu erklären versuchen, weshalb es gerade nicht zu ihrer bevorzugten Gesellschaftsform komme, weshalb sie sich mit ihren doch so überzeugenden Konzepten derzeit nicht durchsetzen könnten. Es hat zu dieser Episode der deutschen Geschichte, zu dieser einmaligen gesellschaftlichen Konstellation in diesem Jahr des Übergangs, keine politische Aufarbeitung gegeben und auch akademisch wurde kaum dazu geforscht.
Der kurze Sommer der Anarchie endete am 3. Oktober 1990 mit der Wiedervereinigung, also mit dem Ende der DDR. Noch am selben Tag kam es zu den ersten gewaltsamen Polizeieinsätzen der West-Polizei in Ostberlin. Endgültig vorbei war das Laissez-faire dann mit der martialischen Räumung der Mainzer Straße vom 12. bis 14. November. Die Staatsgewalt war wiederhergestellt und sie demons­trierte hart und kompromisslos, dass Rechtlosigkeit nicht länger geduldet werden würde. Es war auch eine Ansage an die DDR-Bürger, gar nicht erst auf falsche – also unter Umständen rich­tige – Gedanken zu kommen. Doch auf die hätten sie in dem Jahr zuvor kommen müssen. Warum sie dies nicht taten, muss sich jeder kritisch fragen, der daran glaubt, dass eine bessere Welt möglich ist.