Angela Merkel als Matriarchin der deutschen Großfamilie

Mutti ist die Beste

In Zeiten schwindender Gewissheiten ­sehen die Deutschen in Angela Merkel ­weniger eine Politikerin, als die Matriarchin der nationalen Großfamilie.

25 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung bestehen hierzulande alte ideologische Gegensätze fort. Freilich ist alles endgültig surreal geworden, die Bäumchen haben sich gewechselt. Einstmals »linke« Kritiker des nationalen Vereinigungsprojekts, die auf das partikulare Interesse arbeitender Klassen und unterdrückter Minderheiten gegen das nationale Ganze setzten, präsentieren sich heute als Apologeten des Nationalen; frühere »reaktionäre« Verteidiger der einheitlichen Nation hingegen stimmen das Hohelied der »Diversität« an.
Jürgen Elsässer beispielsweise, einst ein Wortführer der antideutschen Linken, startet das Editorial von Compact (»Magazin für Souveränität«) zunächst mit Erwartbarem: »Deutschland ist ein besetztes Land. Wir sind nicht souverän, sondern eine Militärkolonie der USA.« So weit, so langweilig. Dann die demagogische Innovation: »Was aber auch viele kluge Mitbürger nicht wahrhaben wollen: Es hat eine zweite Besatzung begonnen, und zwar durch sogenannte Flüchtlinge.« Das Vaterland ist in Gefahr aufgrund der unplanmäßigen Zuwanderung aus den globalen Verliererstaaten nach Europa. Auf der anderen Seite lieferte die FAZ, einstmals für Antideutsche das Organ des nationalen Chauvinismus schlechthin, am 15. August an prominenter Stelle eine Reportage über ein sächsisches Dorf, dessen Wortführer sich über die Ankunft von gerade einmal 32 Asylbewerbern in idiotischer Weise den provinziellen Kopf zerbrechen. Im Text korrespondiert die Beschränktheit des Dorfes mit der mentalen wie physiologischen Verfassung der Wortführer, die »stehen schon auf dem Bürgersteig und warten. Breitbeinig auf Sandalen, mit kurzen Hosen und prächtigen Bäuchen.« Doch anders als in anti­deutschen Texten wird hier die Borniertheit nicht als gesellschaftliches, sondern als individuelles Versagerschicksal beschrieben: »Fast 50 Jahre alt, graue Spitzen im vollen Haar, Schnurrbart, und wenn er spricht, schlägt sein Doppelkinn sachte Wellen«, so düpieren die Reporter ihren Hauptansprechpartner.
Verwirrung und Konfusion also allenthalben. Die bange Frage, ob auf Volksstaat oder Volkskultur noch Verlass ist, treibt die Deutschen um. In solchen Zeiten gibt es nur eine Instanz, die Sicherheit und Ruhe verspricht: Mutti.

Kanzlerin Angela Merkel, die mit diesem allgegenwärtigen Kosenamen gemeint ist, verkörpert wie keine zweite die gegenwärtige deutsche Politik: präsent zu sein, sich irgendwie sehen zu lassen, auch wenn man im tatsächlichen Sinne nichts zu bieten hat. Man kann auf den »faulen Griechen« propagandistisch herumprügeln und die niedersten Instinkte einer Gläubiger-Volksgemeinschaft aktivieren, Mutti macht sich dennoch die Finger nicht allzu schmutzig. Denn Merkel übt auch gegenüber dem deutschen Finanzminister nur eingeschränkte Solidarität. Während Wolfgang Schäuble eine »harte« Haltung gegenüber der notorisch saumseligen griechischen Regierung einfordert, bleibt Merkel gelassen, bei aller Loyalität mit ihrem Scharfmacher büßt die Herrin nicht ein Quentchen an Souveränität ein. Zwar bedurfte es keines besonderen Scharfsinns, frühzeitig zu erkennen, dass der Internationale Währungsfond (IWF) früher oder später, wie der Rest der Welt, inklusive der US-Regierung, dem allgemeinen Realitätsprinzip folgen und einen griechischen »Schuldenschnitt« akzeptieren würde, doch Merkel bekam es hin, als Bändigerin des badischen Geizkragens zu erscheinen und deutsches Ressentiment gegenüber Unproduktiven mit der generösen Milde »wahrer« Weltmacht zu vereinen. Das von Merkel beachtete deutsche Realitätsprinzip besteht darin, zu erkennen und zu akzeptieren, dass einer gegenwärtigen deutschen Großmachtpolitik vergangene Versäumnisse, wie beim Aufbau einer militärischen EU-Truppe seit 1990, im Wege stehen, die derzeit nur behutsam beseitigt werden können.
Wie kaum ein anderer deutscher Regierungschef nach dem Zweiten Weltkrieg erfreut sich Angela Merkel der Zustimmung der Deutschen. Als »Mutti« wurde sie bereits nach ihrem zweiten Amtsantritt von der CDU-Klientel verehrt. In ihrer dritten Amtszeit gilt das nun auch für die Mehrheit zumindest der Anhänger der Großen Koalition. Laut derzeitigen Meinungsumfragen bekäme Muttis CDU/CSU etwa 44 Prozent der Stimmen, gäbe es eine von der derzeitigen Verfassung nicht vorgesehene Direktwahl des Regierungschefs, erhielte Mutti gar 56 Prozent. Sie kann sich daher auch erlauben, einen törichten Generalbundesanwalt zur Kündigung durch ihren sozialdemokratischen Justizminister auszuschreiben. Dummer Kerl, dieser Harald Range, ausgerechnet mit »Landesverrat« daherzukommen, wo es um deutsche Kommunikationssicherheit ging und selbst Mutti zum Opfer amerikanischer Ausspähung geworden war.

Warum also nicht gleich Mutti zur Matriarchin künftiger Legislaturperioden küren? Diese naheliegende Idee hatte kürzlich Torsten Albig, sozialdemokratischer Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, geäußert: »Sie ist eine Kanzlerin, wie sie die Deutschen offensichtlich mögen. Ich glaube, es ist schwer, gegen diese Kanzlerin eine Wahl zu gewinnen.« Nur vorübergehend schien diese Aussicht getrübt: Mutti machte einen verhängnisvollen Fehler, als sie in einer Rostocker Schule vor laufenden Kameras eine 14jährige Libanesin zum Weinen brachte, weil sie ihrer Familie keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus in Aussicht stellen wollte und als Rechtsstaatsgläubige nicht konnte. Die Affäre »Merkel und das Mädchen« war geboren. Mutti hatte ein Migranten-Mädchen zum Weinen gebracht und auch noch eine Muslima. Das ging überhaupt nicht. Entlastung kam vorige Woche: Eine 26jährige ghanesische Asylbewerberin in Hannover teilte mit, sie habe ihre Tochter nach Mutti benannt. Sie sei »eine sehr gute Frau, mir gefällt sie«. Das wird allen, von FAZ bis Taz, auch gefallen, nur nicht den Kreisen um Jürgen Elsässer.