Der NSU-Prozess befindet sich in einer entscheidenden Phase

Abwehrkämpfe auf der Zielgeraden

Ein nicht existierendes Opfer und das zerrüttete Verhältnis zwischen Anwälten und Mandantin: Der Prozess gegen mutmaßliche Mitglieder und Helfer des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) war zuletzt ein Leckerbissen für den Boulevard. Doch das sind Nebenschauplätze, die davon ablenken, dass der Prozess in einer entscheidenden Phase ist. Und einen neuen Untersuchungsausschuss soll es auch noch geben.

Ein weiterer Untersuchungsausschuss des Bundestags soll im November seine Arbeit aufnehmen. Er soll unter anderem klären, ob V-Personen wie Michael von Dolsperg »Informationen über die Terrorgruppe ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ oder erstarkende militante neonazistische Gruppierungen an die Sicherheitsbehörden weitergegeben haben und ob diese von Behörden des Bundes oder in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern sachgerecht bewertet und genutzt wurden«. Außerdem soll untersucht werden, »ob bei Behörden des Bundes Akten oder Datenträger vernichtet sowie Daten gelöscht wurden, die für Ermittlungen und Aufklärung zur Terrorgruppe ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ hätten bedeutsam sein können, ob dies jeweils im Einklang mit den dafür geltenden Vorschriften und aus welchen Motiven dies erfolgte«.

Deutliche Worte fand Petra Pau, die Bundestagsvizepräsidentin der Linkspartei und Obfrau ihrer Fraktion im vorigen NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Vergangene Woche, bei einem Pressegespräch gemeinsam mit den übrigen ehemaligen Obmännern und -frauen der anderen Bundestagsfraktionen, sagte sie mit Blick auf das Erstarken der Bewegung der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida): »Die Entstehung von Pegida ähnelt gefährlich der NSU-Entstehungsgeschichte.« Den NSU-Komplex bezeichnete sie als »ein Desaster, welches totales Staatsversagen ausdrückt«. Die Bereitschaft der Sicherheitsbehörden, während des ersten Untersuchungsausschusses Licht ins Dunkeln zu bringen, sei »begrenzt« gewesen. Der erste Untersuchungsausschuss hat 2013 einen mehr als 1 300 Seiten starken Abschlussbericht vorgelegt. Das Ergebnis war vernichtend. »Dass diese Taten weder verhindert noch die Täter ermittelt werden konnten, (...) ist eine beschämende Niederlage der deutschen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden«, so die Auffassung. Pau erinnerte an ein von Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede vom Februar 2012 gegenüber den Überlebenden und Angehörigen der Opfer ausgesprochene Versprechen: »Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen«, hatte Merkel damals gesagt. Diesbezüglich hätten, so Pau, die Zeugen aus den Sicherheitsbehörden vor dem vergangenen NSU-Ausschuss des Bundestages mit ihrem Verhalten »die Kanzlerin fast in den Meineid gezwungen«.

Der neue Untersuchungsauschuss ist jedoch nur ein Schauplatz in Sachen NSU. Im Prozess gegen Beate Zschäpe und die mutmaßlichen Unterstützer des NSU am Oberlandesgericht in München hat Nebenklageanwalt Ralph Willms jüngst eingeräumt, dass es seine Mandantin Meral Keskin wahrscheinlich gar nicht gebe. Die Frau soll beim Nagelbombenanschlag des NSU in der Kölner Keupstraße verletzt worden sein. Willms hat nun nach zweieinhalb Jahren sein Mandat niedergelegt. Laut einer Erklärung seiner Anwälte sei ihm das Mandat für eine Provision vermittelt worden. Der Vermittler sei selbst Nebenkläger im Prozess. Willms habe gegen ihn Strafanzeige erstattet. Viele Fragen sind in diesem Fall noch offen, doch eines ist klar: Die Nebenklage hat darunter gelitten.
»Es tut uns sicher nicht gut«, meint Anwalt Alexander Hoffmann, der im NSU-Prozess eine Nebenklägerin aus der Kölner Keupstraße vertritt, im Gespräch mit der Jungle World. »Dieser Vorgang hat auch das Misstrauen bei Opfern und deren Angehörigen gegenüber Anwälten verstärkt.« Zu Beginn des Prozesses haben Anwälte versucht, weitere Opfer des Nagelbombenanschlags des NSU in der Keupstraße ausfindig zu machen und ihnen ihre Dienste anzubieten. »Die sind mit Dolmetscher von Haustür zu Haustür gegangen«, erklärt Hoffmann. Die Initiative »Keupstraße ist überall« wendet sich in einer Erklärung »gegen die erneuten Versuche, das Instrument der Nebenklage insgesamt in Frage zu stellen und die Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage, die mit viel Engagement im NSU-Prozess arbeiten, in der Öffentlichkeit als unglaubwürdig darzustellen«.
Auf der Anklagebank stimmt ebenfalls einiges nicht. Das Verhältnis zwischen der Hauptangeklagten Beate Zschäpe und ihren Verteidigern ist so schlecht wie noch nie. Die Anwälte Wolfgang Heer, Anja Sturm und Wolfgang Stahl haben im Juli ihre Entpflichtung beantragt, da die Bedingungen für eine ordnungsgemäße Verteidigung nicht mehr gegeben seien. Zuvor hatte Zschäpe einen Entpflichtungsantrag gegen Sturm gestellt. Die Verteidigerin habe unter anderem vertrauliche Informationen öffentlich gemacht. Das Gericht wies die Anträge ab. Zschäpe und ihre drei altgedienten Anwälte reden so gut wie nicht mehr miteinander.
Inzwischen sorgt sich sogar der Anwalt des Angeklagten Ralf Wohlleben, Wolfram Nahrath, um die Verteidigung Zschäpes. Nahrath hat beantragt, den Prozess auszusetzen, da »die prozessuale Situation« seines Mandanten beeinträchtigt sei. Er bezweifelt, dass Zschäpe ordnungsgemäß verteidigt wird, und sieht den Grundsatz eines fairen Verfahrens verletzt. Beate Zschäpe schloss sich dem Antrag an. Das Gericht wies diesen jedoch ab. Der vorsitzende Richter Manfred Götzl befand, eine sachgemäße Verteidigung sei möglich, auch weil sich Zschäpe mit ihrem neuen Anwalt Mathias Grasel weiterhin berate. Den Antrag auf Haftentlassung Ralf Wohllebens lehnte das Gericht ebenfalls ab.
Das Eingreifen der Verteidigung Wohllebens zeigt vor allem eines: Die Luft wird dünn für den unter anderem wegen Beihilfe zum Mord angeklagten Thüringer Neonazi. Der Bundesgerichtshof lehnte bereits im Frühjahr eine Beschwerde gegen eine weitere Inhaftierung des mutmaßlichen Terrorhelfers ab. Nun schließt das Gericht langsam, aber sicher die Beweisaufnahme ab. Formalien wie das Verlesen von Asservatennummern werden erledigt und Zeugen gehört, die früher etwa wegen Krankheit nicht erschienen sind. »Der Prozess befindet sich ganz eindeutig auf der Zielgeraden. Die Fundamentalopposition der Verteidigung Wohllebens wird seit ein paar Tagen gefahren, seitdem sie wissen, dass sie nichts mehr in der Hand haben. Jetzt beginnen Abwehrkämpfe«, sagt Robert Andreasch der Jungle World. Der Journalist beobachtet unter anderem für die Organisation »NSU-Watch« den Prozess. An fast allen der über 200 Verhandlungstage war er anwesend.
Als Strafprozess ist das Verfahren gegen Zschäpe und die vier weiteren Angeklagten notwendigerweise auf die Anklageschrift beschränkt. In dieser steht laut Generalbundesanwalt, dass der NSU »eine aus drei gleichberechtigten Mitgliedern bestehende Gruppierung« war. Deren Identität und Zielsetzung sei »nur einem eng begrenzten Kreis von wenigen Unterstützern und Gehilfen bekannt gewesen«. Angesichts dieser Auffassung von einer kleinen, abgeschotteten Terrorzelle sind Beweisanträge, die auf Hintergründe, Vernetzungen und die Rolle der Sicherheitsbehöden zielen, schwierig und werden vom Gericht regelmäßig abgelehnt.

Allerdings steht noch die Aussage Michael von Dolspergs aus, bekannt als V-Mann »Tarif«. Der Antrag auf Ladung dieses Zeugen geht auf die Nebenklage zurück. Manfred Götzl hat ihn, im Gegensatz zu vielen anderen Beweisanträgen, nicht abgelehnt. »Das wäre natürlich ein weiterer Höhepunkt im NSU-Prozess: Eine der am nächsten zum NSU platzierten V-Personen deutscher Sicherheitsbehörden hier noch zu vernehmen«, sagt Robert Andreasch. In einem Spiegel-Artikel behauptete der ehemalige V-Mann von Dolsperg, es habe 1998 die Möglichkeit bestanden, die untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe festzunehmen. Laut von Dolsperg, der zu dieser Zeit noch »See« hieß, wurde er damals von dem Rechtsextremisten André K. gefragt, ob er die drei Untergetauchten verstecken könne. Er habe dann den Verfassungsschutz darüber informiert, der jedoch nichts unternommen habe. Nach der Selbstenttarnung des NSU 2011, genau an dem Tag, als der Generalbundesanwalt verkündete, dass er Ermittlungen gegen die Terrorgruppe aufgenommen hat, schredderte der Verfassungsschutz die Originalakte »Tarif«. Als der Vorgang bekannt wurde, musste Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm zurücktreten.
Die ehemalige Obfrau der SPD, Eva Högl, die auch dem neuen Untersuchungsausschuss angehören wird, sagte, sie sei nicht zufrieden mit dem, was seither an Reformen in den Sicherheitsbehörden umgesetzt worden sei. Man wolle den Untersuchungsausschuss auch nutzen, um das Thema des institutionellen Rassismus in den Behörden »an der einen oder anderen Stelle« noch einmal anzumahnen. Högl sagte auch, man habe im vergangenen Untersuchungsausschuss »bewusst entschieden, keine V-Männer als Zeugen zu vernehmen«, sondern nur die V-Mann-Führer. »Es könnte sein, dass wir uns entschließen, eine einzelne Person als Zeugen zu vernehmen«, sagte Högl. Ob der neue Untersuchungsausschuss diesmal Mitglieder deutscher Geheimdienste dazu bewegen wird, offener über ihre Tätigkeit zu berichten, bleibt fraglich.