Die Neuwahlen in der Türkei versprechen keine Entspannung

A la Turka

Am 1. November wählt die Türkei ein neues Parlament. Bei den Neuwahlen in dieser Woche geht es um weit mehr als nur die Regierungsbildung. Die konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) versucht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, ihren Anti-Terror-Wahlkampf ­erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Repression und Manipulation gehören dazu.

Der Taxifahrer schüttelt sorgenvoll den Kopf. Ob er es diesmal schaffen werde, fragt er. Aus dem Radio hört man eine Rede Recep Tayyip Erdoğans vor der islamisch-konservativen Gewerkschaft Hak-İş. »Hinter dem Anschlag von Ankara steckt ein Terrorismus-Cocktail«, verkündet der Präsident der Türkei. »Sie behaupten, Daiş (der »Islamische Staat«, Anm. d. Red.) habe den Anschlag allein verübt. Das war ein kollektiver Anschlag, dahinter steckt Daiş, aber auch die PKK, der syrische Geheimdienst und die Terrororganisation PYD (kurdische Partei in Syrien) in Nordsyrien. Alle gemeinsam haben diesen Anschlag geplant.« Die absurde Behauptung, Jihadisten und kurdische Organisationen hätten sich gegen die Türkei verschworen, wird von Spitzenpolitikern der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) seit dem fürchterlichen Bombenanschlag in Ankara unermüdlich wiederholt. Dabei haben beide Attentäter einen islamistischen Hintergrund und waren dem türkischen Geheimdienst bestens bekannt. Dunkle Mächte versuchten, die Türkei zu entzweien, seit den Parlamentswahlen im Juni explodiere der Terror im ganzen Land, kolportieren die von der Regierung kontrollierten Medien Tag und Nacht.
Der Fahrer blickt aus dem Fenster über das Marmara-Meer. »Die PKK ist an allem Schuld« brummt er. »Sie betrügen ihre Leute. Sie behaupten, in Südostanatolien würden keine Investitionen getätigt, keine Schulen gebaut. Dabei verüben sie Anschläge auf Staudämme und erschießen unsere Lehrer.« Es folgt ein Sermon von Verwünschungen. Die PKK hat durchaus solche Methoden angewandt. In den neunziger Jahren kontrollierte sie Teile der südöstlichen Provinzen, exekutierte türkische Lehrer und vom Staat bewaffnete Milizionäre. Das Militär setzte Kontraterrorismus ein. Die kurdische und islamistische Hizbullah wurde gegen die PKK unterstützt. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die PKK verhandelte seit 2013 direkt mit Vertretern des türkischen Geheimdienstes. Erst als das tür­kische Militär Ende Juli begann, Stellungen der PKK zu bombardieren – mehr als 1 000 PKK-Anhänger sollen bislang getötet worden sein –, hob diese den Waffenstillstand auf. Anschläge und eskalierende Polizeigewalt in den Städten im Südosten der Türkei waren die Folge. In einigen Städten werden seitdem immer wieder Ausgangssperren verhängt. Die Eskalation der Gewalt begann mit der gescheiterten Regierungsbildung nach den Wahlen im Juni. Durch einen Stimmenzuwachs der prokurdischen Demokratiepartei des Volkes (HDP) hatte die AKP die absolute Mehrheit verloren. Erdoğans Träume von der Instal­lation eines Präsidialsystems platzten. Die Regierung ließ die Koalitionsverhandlungen scheitern. Nicht mal mit der koalitionsbereiten Nationalistischen Bewegungspartei (MHP) gelang die Regierungsbildung, weil die AKP auf einer Verfassungsänderung zugunsten eines Präsidialsystems bestand.

MHP und AKP teilen den Hass auf die PKK. Nach dem Ende des Waffenstillstands und einem unseligen Angriff der PKK auf einen Militärposten nahe der Grenze zum Irak, bei dem 20 Soldaten getötet wurden, rief auch die MHP zu Demonstrationen »gegen den Terror« auf. Das Ergebnis waren Verwüstungen kurdischer Geschäfte auch im Westen der Türkei, Angriffe auf Busgesellschaften aus dem Südosten der Türkei und auf Medienanstalten. Ein Mob aus islamisch-konservativen und ultranationalistischen Hooligans versuchte zweimal, das Verlagshaus der Tageszeitung Hürriyet zu stürmen, weil die Nachrichtenredaktion auf Twitter die naheliegende Frage gestellt hatte, ob Bombardierungen und Gewalt vielleicht die neue Wahlkampfstrategie der türkischen ­Regierung seien.
Mehmet Ö. stellt das Autoradio ab. Der etwa 50jährige Mann stammt aus der Industriestadt Zonguldak an der Schwarzmeerküste. Dort gibt es zwar Steinkohle und eine Stahlfabrik, doch die Bergleute verdienen nur den Mindestlohn. 1992 kamen 260 Kumpel bei einem Grubenunglück ums Leben. Viele verließen die Stadt bereits in den siebziger Jahren und gingen in das Ruhrgebiet zum Bergbau, auch in Istanbul leben viele Migranten aus Zonguldak. Unter ihnen sind Anhänger der Republikanischen Volkspartei (CHP), der AKP und der MHP. Jeder zweite Wähler favorisiert die Ultrarechten oder die Islamisch-Konservativen. Mehmet Ö. gehört zu den Anhängern eines Präsidialsystems unter der Führung Erdoğans. Nur ein starker Führer könne die Türkei vor dem Sumpf des Terrors und vor dem impe­rialistischen Ausland schützen, das der Türkei den wirtschaftlichen Erfolg nicht gönne. »Nicht ich oder du, sondern erst kommt der Staat«, wiederholt er einen der pathetisch-nationalistischen Wahlslogans der AKP. Die Regierungspartei gestaltet ihren Wahlkampf als populistisches Potpourri: Diabolisierung der politischen Gegner, Inszenierung der Terrorbedrohung, Imagination einer Weltverschwörung gegen die Türkei vermischt mit wirren Versprechungen.
Zur Förderung der von Erdoğan favorisierten Drei-Kinder-Familie sollen Mütter künftig eine Prämie erhalten: bei der Geburt des ersten Kindes künftig 900 Lira, bei der des zweiten 600 Lira und nach der Niederkunft mit dem dritten Kind 400 Lira. Jungen Ehepaaren werden zinslose Kredite für die Gründung eines Haushaltes versprochen. Erdoğan eröffnet in diesen Tagen ­unermüdlich Mädchenschulen und verspricht armen Familien Stipendien für ihre Töchter. Die HDP wird als Auslöser der Eskalation des Terrors diffamiert. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu und Präsident Erdoğan sprechen immer wieder von den Verbündeten der Terroristen, dabei ist Selahattin Demirtaş der erste Vorsitzende einer prokurdischen Partei, der klare Grenzen zwischen Partei und PKK zieht. Unmittelbar nach Aufhebung des Waffenstillstandes appellierte er an die PKK-Führung, die Waffen wieder niederzulegen. Kurz vor dem Anschlag in Ankara hatte die PKK einen einseitigen Waffenstillstand erklärt. Seither wird von AKP-Politikern unisono jeder Friedensaufruf politischer Konkurrenten als Heuchelei tituliert. Mit großen Kundgebungen macht die AKP nun Anti-Terror-Wahlkampf.

Auf der größten Friedensdemonstration seit den Gezi-Protesten sprengten sich am 10. Oktober zwei Selbstmordattentäter in die Luft. Das weckte Zweifel bei vielen. Die Regierung reagierte aggressiv und autoritär. Mittlerweile werden Friedensaufrufe als Ordnungswidrigkeit angesehen. Zwei Fußballfans wurden am Sonntag in Ankara festgenommen, weil sie ein Transparent mit der Aufschrift »Frieden jetzt« hochhielten. Immer wieder wird in den regierungsnahen islamistischen Blättern wie Yeni Akit auch von »ausländischen Geheimdiensten« als Drahtziehern des Terrors ­fabuliert.
Das sind die Vorstellungen, die die Islamisch-Konservativen bereits unter dem mittlerweile verstorbenen Islamistenführer Necmettin Erbakan in den neunziger Jahren immer wieder propagiert hatten. Mit einem grob zusammengezimmerte Konzept von einer »gerechten Ordnung« favorisierten die Islamisten damals bereits autoritäre Regierungsstrukturen, die Durchsetzung der Ungleichheit von Mann und Frau und eine auf Patronage fußende Wirtschaftspolitik, die angeblich volksnah sein sollte, aber seit eh und je unter dem Volk nur die eigenen Anhänger versteht.
Recep Tayyip Erdoğan hatte sich Ende der Neunziger von seinem Ziehvater Erbakan losgesagt und mit Abdullah Gül und Ahmet Davutoğlu die AKP gegründet. Diese bediente sich großzügig der Konzepte der anderen Parteien. Die Liebe zu Europa wurde entdeckt, eine neoliberale Wirtschaftspolitik installiert, Reformen im Rechtssystem wurden angestoßen. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, das Militär politisch entmachtet. Tatsächlich erschienen die Islamisch-Konservativen vielen über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg als vielversprechende Reformpartei. Außenpolitisch wurde ein freundschaftlicher Kontakt zu den Nachbarn gepflegt, der Dialog mit den Kurden wurde als Friedensprozess tituliert und sogar mit dem seit 1999 auf der Insel İmralı inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan verhandelte man.
Etwa zur Zeit der Demokratisierungsbewegungen in vielen arabischen Ländern während des sogenannten arabischen Frühlings kippte die Politik der AKP plötzlich. Vor allem die Absetzung der islamistischen Regierung Mohammed Mursis in Ägypten wurde in Ankara mit Unmut aufgenommen. Die Hamas in Gaza und die Islamisten in Syrien wurden zu starken Verbündeten. Der konservative Journalist Cengiz Çandar, früher ein Unterstützer der Kurdenpolitik der Regierung, bescheinigte der AKP-Spitze unlängst auf der Online-Plattform al-Monitor, nur noch eine schlechte Kopie der Muslimbrüder zu sein.

Das Taxi hält vor dem Çınar-Hotel in Yeşilköy. In der Lobby wartet Bülent Mumay, der Online-Chefredakteur von Hürriyet. Momentan ist er auf Druck der Regierung vom Dienst freigestellt, weil er gegen das Nachrichtenverbot nach dem Anschlag von Ankara verstoßen hat. »Ich wollte nicht verantworten, dass wir verschweigen, dass der Geheimdienst vor dem Attentat gewarnt hatte und die Täter bekannt waren, bevor sie sich mitten in Ankara in die Luft sprengen konnten.« Nach Mumays Einschätzung hat der Anschlag trotz der AKP-Propaganda dem Ansehen der Partei geschadet. Er rechnet mit einem schlechteren Ergebnis für die AKP als bei den Wahlen im Juni. Da hatte die AKP noch 40,9 Prozent, die CHP 25 Prozent, die MHP 16,3 Prozent und die HDP 13,1 Prozent der Stimmen erhalten. Die Prognosen verschiedener Meinungsforschungsinstitute fallen sehr unterschiedlich aus. Das Zünglein an der Waage wird wieder die HDP sein. Scheitert sie an der Zehn-Prozent-Hürde, fallen ihre Stimmen den großen Parteien zu. Davon hatte die AKP in der Vergangenheit immer profitiert. Fatal wäre es, wenn einige der CHP-Wähler, die im Juni der HDP ihre Stimme gegeben haben, um der AKP zu schaden, aufgrund der antikurdischen Propaganda der Regierung wieder umschwenken würden.
Die Fronten zwischen MHP und AKP haben sich während des Wahlkampfes verhärtet. Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli kritisierte vergangene Woche, dass die aggressive Außenpolitik der Regierung den Terror im Land schüre. Die türkischen Wähler werden bei dieser Wahl sehr gefordert. Sie sind einer umfassenden Manipulationspolitik ausgesetzt. Bülent Mumay konstatiert, dass die Menschenrechte seit den neunziger Jahren in der Türkei zwar mehr geachtet würden, die AKP es aber vermocht hat, in den vergangenen Jahren die Medien zu monopolisieren und so zu kontrollieren. Viele AKP-nahe Unternehmer kauften große Verlagshäuser, die vorher von der AKP mit Prozessen wirtschaftlich stark geschwächt wurden. Dass die Regierung angesichts der unsicheren Mehrheitsverhältnisse versuchen könnte, die Wahlen durch eine weitere Destabilisierungspolitik erneut zu verschieben, wie Gerüchte besagen, will sich Mumay gar nicht vorstellen: »Dann kommt es zum Bürgerkrieg. Diesmal würden die Anhänger aller konkurrierenden Parteien auf die Straße gehen. Das wäre ein größerer Volksaufstand als die Gezi-Proteste, aber auch unbeschreiblich brutaler.«