Zum 100. Geburtstag von Roland Barthes

Was hätte er zu ihnen gesagt?

Am 12. November wäre Roland Barthes 100 Jahre alt geworden. Klaus Walter hat dem französische Philosophen eine eigene Lesart von Pop zu verdanken.

Kleines Gesellschaftsspiel: über Musik sprechen, ohne jemals ein einziges Adjektiv zu verwenden.« Das wär’ doch was. »Jedes Bild von ihm ist ihm selbst unerträglich, er leidet darunter, genannt zu werden. Er meint, daß die Vollkommenheit einer menschlichen Beziehung auf der Vakanz des Bildes beruht: untereinander, vom einen zum andern, die Adjektive abschaffen; eine Beziehung, die sich mit Adjektiven versieht, ist auf Seiten des Bildes, auf der Seite der Herrschaft, des Todes.«
Bei keinem anderen Autor geht es mir so: Ich lese, was er über etwas schreibt, das ich nicht kenne, und ich übertrage es auf etwas, das ich kenne. Und andersrum: ich höre Musik, die Barthes nicht kannte, kennen konnte, und übertrage einen Text von ihm auf das Gehörte. Das hier schrieb er nicht über die Beatles:
»Sehr selten gibt es Künstler, die auf mehrere soziale Klassen gleichzeitig eine verführerische Macht ausüben. Populär würde ich genau den Künstler nennen, der sowohl den Leuten gefällt, die über schwierige und subtile Lektürekriterien verfügen, wie auch denen, denen sie fehlen.«
Die Beatles zum Beispiel, zumal sie nicht ein Künstler waren sondern deren vier, die ein komplexes, nicht von eindeutigen (Hetero-)Hierarchien geprägtes Beziehungsgeflecht verbindet, wie auch bei den Rolling Stones. Und die, weil sie vier unterschiedliche Typen sind, umso leichter auf mehrere soziale Klassen gleichzeitig eine verführerische Macht ausüben. Wen aber meint Barthes? »In einer anderen Kunst als der Musik gibt es einen Mann, der mir in typischer Weise dieser sehr seltenen Funk­tion zu entsprechen scheint, es ist Charlie Chaplin. Er hat Filme produziert, die Milliarden Kinder und Erwachsene aller Altersstufen zum Lachen gebracht und zugleich mit voller Berechtigung zu den schwierigsten und subtilsten Auslegungen Anlass gegeben haben. Chaplin drückt im übrigen wie Schubert einen gewissen Zustand der Unschuld aus … «
Äpfel mit Birnen vergleichen, das ist eine Stärke von Roland Barthes, und nebenher werden die falschen Dichotomien von E & U und Hi & Lo ausgehebelt.
Nicht in der Musik von Burial oder Theo Parrish hört Barthes »eigentlich keine einzige Note, keine Grammatik, keinen Sinn, nichts, was eine irgendwie geartete intelligible Struktur des Werks wiederherzustellen erlauben würde. Nein, was ich höre, sind Schläge: ich höre das, was im Körper schlägt, was den Körper schlägt, oder besser: diesen Körper, der schlägt.«
Nein, Barthes, 1980 bei einem Verkehrsunfall gestorben, schreibt nicht über Dubstep oder House. »Folgendermaßen höre ich den Körper von Schumann (der hatte mit Sicherheit einen Körper, und was für einen Körper! Sein Körper war das, was er noch dazu hatte): in der ersten der ›Kreisleriana‹ rollt es sich zusammen und dann webt es, in der zweiten streckt es sich und dann erwacht es … « So könnte es gehen: ohne Adjektive über Musik sprechen. Dabei habe ich nie versucht, den Körper und die Schläge bei Schumann so zu hören, wie Barthes sie gehört hat, vermutlich in dem Wissen, dass ich aus einer sozialen Klasse komme, die mir den frühen Zugang zu Schumann und Schubert verwehrt hat, so dass sie keine verführerische Macht auf mich ausüben konnten. Dafür hörte ich die Schläge bei Burial, 2006, und schrieb: »Hört man Dubstep in einer windigen Algarvenacht bei grünem Supermarktwein in Gesellschaft einer Psychoanalytikerin, dann kommt man schnell drauf. Dubstep ist super, weil er die pränatale Koenästhesie wiederbelebt. So heißt die urnarzisstische Erfahrung des Fötus im Mutterbauch: er genießt den versorgenden Uterus, kennt nicht Hunger, Angst und Abhängigkeit, die böse Welt da draußen. Guter Dubstep ist wie ein Sog in den Uterus. Englische Kritiker sprechen von einem ›womblike sound‹ und betonen seine ›weibliche Unterseite‹. Wäre das alles, dann könnte sich die Wellness-Industrie Dubstep ins Regal stellen – bitte vor Enya einordnen! Das Fabelhafte an gutem Dubstep aber ist die Synthese: die Musik von Skream, Digital Mysticz und vor allem Burial ist kein Wohlfühltrank für Eso­teriker, sie hat auch Töne für die ursprüngliche Aggression, die Zäsur der Geburt hinein in die feindliche Welt. Vom Wasserbad der Fruchtblase in den Regen von London – diese Bewegung verkörper(lich)t das Album von Burial.«
Auf solche Ideen wäre ich ohne Barthes-Lektüre nie gekommen, die Initiation waren die »Mythen des Alltags«, 1954 veröffentlicht, erstmals 1975, 76 beim Trampen durch Frankreich gelesen. Tatsächlich verwendet Barthes immer wieder den im deutschen Sprachraum nicht durchgesetzten Begriff der Koenästhesie (beziehungsweise Zönästhesie), um die komplizierten Interaktionen von Körper und Psyche zu benennen, die sich abspielen, wenn wir zum Beispiel Musik hören, Schläge, allein zu Hause, oder besser, nachts im Club: »Der Schlag kann diese oder jene Figur annehmen, die nicht zwangsläufig die einer heftigen, wütenden Betonung sein muß. Da jedoch jeg­liche Figur der Ordnung der Wollust angehört, kann keine einzige ein romantisches Prädikat zugewiesen bekommen (sogar und vor allem wenn sie von einem romantischen Musiker vorgebracht wird) … der Rang der Figur ist nicht an die seelischen Zustände gebunden, sondern an die subtilen Bewegungen des Körpers, an diese ganze differentielle Koenästhesie, an dieses histologische Moirégewebe, woraus der lebende Körper gemacht ist.«
Ich lese Barthes, wie ich als Kind Pop-Musik gehört habe (und heute noch höre, manchmal): mit dem unbedingten Willen, genau das genau jetzt gutzufinden, ohne es bis ins Letzte zu verstehen – es aber koenästhetisch zu verstehen. Der Begriff kommt vom griechischen koinos und aisthesis, in den Fußnoten der »Mythen des Alltags« wird er – unzulänglich – als »Gemeingefühl« übersetzt. Für Mona Körte und Anne-Kathrin Reulecke, Herausgeberinnen eines Aufsatzbandes über das Buch, »betreibt Barthes in produktiver Nähe zu Gaston Bache­lard eine Psychoanalyse der Substanzen und Materialien. Hatte doch auch Bachelard der unmittelbaren Alltagswahrnehmung und, wie auch er es explizit sagt, dem ›gesunden Menschenverstand‹ zutiefst misstraut.«
Gerade erleben wir, wie der gesunde Menschenverstand des deutschen Gemütsmenschen umschlägt: vom passiven, gleichmütigen Konformismus in aktiven, aggressiven Normalismus. Barthes’ Misstrauen, oft von Ekel begleitet, ist also angebracht und hilft ihm, »Pseudonatur als Geschichte (zu) dechiffrieren«, so Horst Brühmann, sich nicht damit abzufinden, dass die Dinge nun mal so sind, wie sie sind, dass sie nicht Natur sind, sondern Gemachtes, Konstruiertes. Als ich die »Mythen« zum ersten Mal las, war mein Interesse an Pop-Musik auf einem Tiefpunkt, auf den Punkt gebracht in einem der dümmsten Sätze der Pop-Geschichte: »It’s only rock ’n’ roll but i like it«, ein Hit der Rolling Stones von 1974, der im Titel ­alles dementiert, was Rock ’n’ Roll, also Pop jemals interessant und aufregend gemacht hatte: dass es da um Tod oder Leben ging, um Provinz oder Großstadt, Fußballverein oder Plattenladen. Mit Barthes habe ich kapiert, dass es viel mehr ist als bloß Rock ’n’ Roll und dass ich wissen will, was ich warum liebe und nicht bloß like. Ein Buch wie eine Impfung.
Claude Haas vergleicht die »Mythen« mit Theodor W. Adornos »Minima Moralia« und sieht neben einigen Parallelen bei Barthes eine »signifikante strukturelle Gegenfigur« zu dem, was er Adornos »Emphase des dialektischen Umschlags« zum Besseren, zum, mit Hölderlin, »Rettenden auch« nennt: die Impfung! 1975 impfte Barthes mich gegen die eschatologischen Lebenslügen einer Linken, die am Aberglauben vom Lauf der Geschichte und an ihrer positiven Kindergarten-Dialektik festhält, obwohl sich die Welt gerade ganz woanders hindrehte, kurz vor Stammheim. Die »Mythen« sind das Serum gegen hippieeske, protogrüne Ideologien der Natürlichkeit, des Unwillkürlichen und Authentischen in den Künsten. Mona Körte: »In den ›Mythen des Alltags‹ folgen die Verweise auf die Gemachtheit von Gesichtern eher indirekten Regeln, die die Geschichtlichkeit der Gesichtlichkeit, die Tatsache ihrer Gewordenheit durch mediale Transformationen und historische Gegebenheiten in die sie formenden Materialien hinein verlegt, genauer über das gezielte Aufrufen des gestaltenden Materials den inszenierten Schauspielergesichtern wieder zurückerstattet: Ist das der Garbo ›gipsern‹, ›aus Schnee‹, dabei nicht gemalt, sondern ›aus dem Glatten und dem Mürben‹ geformt, so ist das Charlie Chaplins mehlig.«
Mit Barthes habe ich Roxy Music und Warhol kapiert, Velvet Underground revisited und war bereit für die künstlichen Paradiese und Höllen von Disco, Punk und New Wave – zumindest könnte es so gewesen sein, wenn ich meine Biographie ein bisschen photoshoppe.
»Die Wirkung des Catchens liegt darin, daß es ein übertriebenes Schauspiel ist.« So lautet der erste Satz der »Mythen des Alltags« über »Die Welt des Catchens«. Darin beschreibt der – nichtheterosexuelle – Zeichentheoretiker, wie »Gesten, Posen und Mimiken fortwährend zur besseren Lesbarkeit des Kampfes beitragen« und wie die Physis der catchenden Männer ihr Verhalten vorzeichnet: da ist der »lächerliche Hahnrei«, der »arrogante Gockel« und eine »rachsüchtige Schlampe« namens Orsano, ein »effeminierter Jazzfan, der anfangs im blau-­rosa Bademantel auftrat«. Was hätte Roland Barthes zu der Sorte Catchen gesagt, die in »Close up« zu sehen ist, dem aktuellen Video von Peaches? Darin spielt Kim Gordon in grüner Bomberjacke zu rotem Lippenstift den dominant bossigen, E-Zigarette rauchenden Coach der Wrestlerin Peaches, die zum Warmmachen auf Schweinehälften einboxt. Später steht Gordon im weißen Prinz-von-Homburg/René-Weller-Gedächtnis-Pelz am Ring, nebst XXL-Sonnenbrille. Das Catcher-Spektakel kriegt einen Dreh ins Genderfluide.
Hier die überzeichneten Witzfiguren aus dem Barthes’schen Bestiarium des Männer-Wrestling: ölige Muskelprotze, ein kleinwüch­siger Freak, ein voluminöser Glatzkopf, dem braune Soße aus dem Hintern quillt, die er Peaches ins Gesicht schmiert. Dort: Catch-People von unbestimmter Geschlechtlichkeit und polymorpher Sexualität, auch mal im rosa Petticoat. Aus einer nackten Frauenbrust spritzt weiße Flüssigkeit – in Peaches geöffneten Mund. Für Barthes war Catchen »der einzige Sport, der sich nach außen hin den Anschein der Folter gibt«. Bei Peaches ist Wrestling ein Sport, der sich nach außen hin den Anschein von BDSM und lesbischem Sex gibt. Lesbischer Sex, der pornoaffin auch zum Plaisier heterosexu­eller Männer inszeniert wird. Peaches und ihr Regisseur Vice Cooler plündern die Bilderwelt von »Ultimate Surrender«, einem Wachstumssegment der Wachstumsbranche Pornographie. Eine Reality-Show mit nackten Frauen beim Wrestling, das – angeblich ohne Script! – in Fucking übergeht, gerne mit Dildo-Penet­ration und Torturen für die Unterlegene. Sexual wrestling sei für echte Sportfans, so die Botschaft. Das Video zu »Close up« kann also gelesen werden als Kommentar zu einem Pornophänomen, so wie das komplette Peaches-­Album als Reflexion zum Stand der Körperdinge im Zeitalter der digitalen Massen­pornographie.
Was hätte Roland Barthes wohl zum Porno von heute gesagt? Oder zur Ehe für alle, die ja gerade in Frankreich auf massenhaften Widerstand stößt? Beim Wiederlesen der nunmehr vollständigen Ausgabe der »Mythen des Alltags« überrascht die Verve, mit der Barthes immer wieder die (klein)bürgerliche Familie ins Visier nimmt, wie er schon im Vorwort von 1970 die »bürgerliche Norm« als »Hauptfeind« ­ausmacht. »Frauen sind auf der Welt, um den Männern Kinder zu schenken«, schreibt er mit dem distanziert angeekelten Blick des Zoologen, der sich mit niederen Kreaturen beschäftigen muss. Das französische »Imitationsspielzeug« wolle »aus den Kindern Benutzer, nicht Schöpfer machen« und »kleine spießige Eigentümer«, schon das Material des Spielzeugs »führt in eine Koenästhesie (Zönästhesie) des Gebrauchs, nicht der Lust«.
Seiner Autobiographie »Über mich selbst« hat Barthes 40 Seiten mit Fotos vorangestellt, viele mit der geliebten Mutter – als der Vater im Krieg stirbt, ist Roland noch ein Baby. Ein Foto zeigt den vielleicht 16jährigen am Strand, die Mutter lehnt an seiner Schulter, im Arm hält sie Rolands kleinen Halbbruder. »Die Familie ohne den Familiarismus«, steht über dem ödipalen Dreieck. »Kein Vater zum Töten, keine Familie zum Hassen, kein Milieu zum Ablehnen, die große ödipale Frustration«, schreibt er an anderer Stelle.
Seine Homosexualität spielt in den »Mythen« keine Rolle. Sicher ist das den Konventionen der Zeit geschuldet, aber Barthes mag auch befürchtet haben, dass seine Kritik am bürgerlichen Familiarismus von der Gegen­seite unter Hinweis auf seine eigene, abweichende Sexualität diskreditiert werden könnte. Dabei schreibt ein nichtheterosexueller Mann zu dieser Zeit ja tatsächlich aus dem Außen, wenn er über die Familie schreibt und er bleibt im Außen, weil ihm – aus damaliger Sicht – eine Familie niemals vergönnt sein wird. Das schärft den Blick und nimmt der Kritik dennoch nichts von ihrer Berechtigung. Im heutigen Frankreich müsste Barthes einen Ausweg finden zwischen homophoben Gegnern der Ehe für alle und schwullesbischen Realos, die für ihre kleine Familie kämpfen. Gern hätte ich auch gelesen, was Barthes zu den maskulinistischen Inszenierungen der Sarkozys und Hollandes gesagt hätte. Oder zu den maskulinistischen Exzessen eines Strauss-Kahn. Zu schade.