Rechte Offensive gegen die Regierung von Dilma Rousseff in Brasilien

Druck von Bibel und Rind

In Brasilien sieht sich die Mitte-links-­Regierung nicht nur mit Skandalen in den eigenen Reihen konfrontiert. Der rechten Opposition gelingt es immer öfter, ihre politischen Vorhaben durchzusetzen.

»Ich habe keine Angst vor euch Generälen, die Zeiten haben sich geändert. Die ganzen Faschisten hier müssen sich an mich gewöhnen«, polterte Jean Wyllys während einer Plenarsitzung in der brasilianischen Abgeordnetenkammer Ende Ok­tober. Der LGBT-Aktivist und Politiker der linken Oppositionspartei PSOL war zuvor heftig vom rechten Parlamentarier João Rodrigues der Partei PSD attackiert worden. Dieser hatte Wyllys als »Abschaum« und »Verteidiger von Verbrechern« bezeichnet. Wyllys wiederum warf Rodrigues vor, öffentliche Gelder zu stehlen und während Plenarsitzungen Pornofilme anzusehen. Erst ein Ordnungsruf beendete den verbalen Schlagabtausch.
Seit Wochen kommt es im brasilianischen Parlament zu hitzigen Auseinandersetzungen. Die Rechte nutzt immer mehr ihren Einfluss, den sie durch die Wahlen im vergangenen Jahr vergrößern konnte. Zwar wurde Dilma Rousseff von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT) als Präsidentin knapp wiedergewählt, im Parlament stellen jedoch rechte Abgeordnete die Mehrheit. Vertreter der Rüstungsindustrie, der Agrarindustrie und evangelikaler Kirchen geben hier den Ton an. Diese Dreifaltigkeit wird von Kritikern treffend als Fraktion BBB, bíblia, bala e boi, (Bibel, Gewehrkugel und Rind) bezeichnet. 373 der 513 Mitglieder der Abgeordnetenkammer zählen zumindest zu einer dieser Gruppen, viele von ihnen zu mehreren.
Ein von der Waffenlobby eingebrachter Gesetzesentwurf, der eine erhebliche Lockerung der Waffengesetze vorsieht, wurde unlängst vom Parlamentsausschuss gebilligt und wird nun zur Abstimmung an den aus Abgeordnetenkammer und Senat bestehenden Kongress weitergeleitet. Ende Oktober billigte der Senat ein Projekt, dass eine neue Terrorismusdefinition festschreiben soll. Menschenrechtler befürchten dadurch eine erhebliche Ausweitung der Repression gegen soziale Proteste.

Vor allem erhitzt jedoch der Gesetzesentwurf PL 5069 die Gemüter im größten Land Lateinamerikas. Dieser wurde von einer fraktionsübergreifenden Koalition aus Evangelikalen und Erzkonservativen eingebracht und soll Schwangerschaftsabbrüche erschweren. Eine Abtreibung ist in Brasilien nur möglich, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist, wenn das Leben der Mutter gefährdet oder der Embryo nicht lebensfähig ist. Der nun eingebrachte Gesetzesentwurf sieht vor, dass sich Frauen nach einer Vergewaltigung einer Untersuchung unterziehen sowie Anzeige bei einer Polizeiwache erstatten müssen, um abtreiben zu dürfen. »Dies bedeutet nicht nur den Entzug von lang erkämpften sozialen Rechten, sondern stellt auch den Versuch einer absoluten Objektifizierung von Frauen dar und einer Schuldübertragung auf Personen, die Opfer von sexueller Gewalt werden«, sagt die Journalistin und Feministin Luka Franca der Jungle World. »Solche Projekte werden nur dazu beitragen, die Dunkelziffer von sexueller Gewalt zu erhöhen, weil sie den Zugang zu Hilfe behindern«, führt Franca aus.
Aber der Widerstand gegen die konservative Politik der Kongressmehrheit wächst. Ende Oktober gingen in ganz Brasilien Zehntausende gegen die Pläne der Evangelikalen und für eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetze auf die Straße. Allein in São Paulo demonstrierten nach Angaben der Veranstalterinnen rund 15 000 Menschen. Das Bündnis »Frauen gegen Cunha« kündigte einen »feministischen Frühling« an.
Der Präsident der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, steht wie kein anderer für den derzeitigen Rechtsruck im Kongress. Zwar koaliert seine Mitte-rechts-Partei PMDB mit dem PT, doch gilt Cunha als scharfer Widersacher der Mitte-links-Regierung. Der stramm konservative Politiker aus Rio de Janeiro, ein Mitglied der evangelikalen Pfingstkirche »Assembleia de Deus«, wettert regelmäßig gegen »Schwulenideologie« und »Heterophobie«. Kurz nach seinem Amtsantritt erklärte er, dass die Entkriminalisierung von Abtreibung nur über seine Leiche im Kongress verhandelt werde. Ende Oktober holte die »Bibel-Lobby« – mit Cunha an ihrer Spitze – zum großen Schlag aus: Mit dem »Familienstatut« soll die Familie lediglich als Vereinigung zwischen Mann und Frau definiert werden; homosexuelle Paare blieben bestimmte Rechte verwehrt. Die seit 2011 in Brasilien gleichgeschlechtliche Ehe könnte damit formell ausgehöhlt werden. Zudem wurde ein Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht, der der Kirche Befugnisse einräumen soll, Regeln und Entscheidungen des Obersten Bundesgerichts in Frage zu stellen. Kritiker erklärten, im Falle einer Verabschiedung würde das Gesetz Brasilien »ins Mittelalter zurückwerfen«.

Auch die Agrarlobby nutzt die rechte Offensive. Der Parlamentsausschuss billigte jüngst den umstrittenen Gesetzesentwurf PEC 215, der die Entscheidungen über die Grenzziehung indigener Gebiete von der Indigenenbehörde Funai, die der Regierung unterstellt ist, auf den Kongress übertragen soll. Da im Kongress Vertreter der Agrarindustrie starken Einfluss haben, könnte dies ein Ende der Gebietsausweitungen indigener Territorien bedeuten. Der indigene Aktivist Lindomar Terena bezeichnete den Gesetzesentwurf als »großen Rückschritt für die mühsame Erkämpfung unserer Rechte«. Bei den »Ersten Weltspielen der indigenen Völker«, die Ende Oktober im Bundesstaat Tocantins stattfanden, unterbrachen Demonstrierende mehrfach die Sportveranstaltung mit Protesten. Ehrengast Rousseff wurde bei der Eröffnungszeremonie lautstark ausgebuht. Die Präsidentin äußerte vorsichtige Kritik am jüngsten Gesetzesentwurf, jedoch werfen indigene Organisationen der Regierung schon seit langem Tatenlosigkeit vor. Vor allem die Ernennung der ehemaligen Viehzüchterin Kátia Abreu, die als Vertreterin der Agrarindustrie gilt, zur Landwirtschaftsministerin führte Anfang des Jahres zu heftiger Kritik.
Die schwer angeschlagene Arbeiterpartei kann der rechten Mehrheit im Parlament wenig entgegensetzen. Die Wirtschaftskrise trifft Brasilien weiterhin hart. Die Inflation wird noch in diesem Jahr auf über zehn Prozent steigen und die Industrieproduktion ging im September zum vierten Mal in Folge zurück. Wirtschaftsexperten zufolge nähere Brasiliens Kreditwürdigkeit sich »Ramsch-Niveau«, und der Unternehmer Abílio Diniz erklärte bei einer Rede vor US-amerikanischen Investoren in New York, dass das Land »zum Ausverkauf« stehe.
Die Massenproteste gegen die Regierung sind zwar langsam abgeflaut, allerdings sind die Popularitätswerte der Präsidentin immer noch äußerst niedrig und der Petrobras-Skandal belastet den PT schwer. Jahrelang soll bei der Vergabe von Aufträgen des halbstaatlichen Erdölkonzerns Schmiergeld in Milliardenhöhe geflossen sein. Dem PT und mehreren Koalitionspartnern wird vorgeworfen, dadurch ihre Parteikassen ­illegal gefüllt zu haben. Gegen etliche Politiker wird ermittelt. Anfang Oktober entschied das Oberste Wahlgericht (TSE), auch Ermittlungen gegen Präsidentin Rousseff wegen des Verdachts des politischen und ökonomischen Machtmissbrauchs aufzunehmen. Rousseff, die von 2003 bis 2010 Aufsichtsratsvorsitzende von Petrobras war, soll ihren Wahlkampf mit Spenden von Zuliefererfirmen des Ölkonzerns finanziert haben.

Für die rechte Opposition könnten die Ermittlungen gegen die Präsidentin den lange ersehnten Anlass für ein Amtsenthebungsverfahren liefern. Der PT erklärte jedoch, dass es keine »rechtliche Grundlage« für ein solches Verfahren gebe. Rousseffs Wahlkampfleiter Flávio Caetano nannte die Bestrebungen der Opposition ein »politisches Manöver«. Dennoch überreichten Mitte Oktober Abgeordnete verschiedener Parteien dem Unterhauspräsidenten Cunha einen 65 Seiten langen Antrag auf Amtsenthebung. Er muss ihn auf seine Rechtmäßigkeit hin prüfen und entscheiden, ob es im Kongress zum Votum über die Absetzung Rousseffs kommt.
Doch auch gegen Cunha wird ermittelt. Der umstrittene Politiker wird beschuldigt, im Petro­bras-Skandal Bestechungsgeld in Millionenhöhe erhalten zu haben und über mindestens vier geheime Konten in der Schweiz zu verfügen. Schweizer Behörden ermitteln wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche. Anfang November ­leitete die Ethikkommission der Abgeordnetenkammer ein Absetzungsverfahren gegen Cunha ein. Auch wenn es gelingen sollte, die ihn des Amtes zu entheben, wird der Druck der rechten Lobbys im Kongress kaum nachlassen. So scheint ein politischer Rückschritt in Brasilien bereits besiegelt zu sein.