Die Attentäter von Paris

Jihad im Lebenslauf

Einige Attentäter der islamistischen Anschläge von Paris fanden erst spät zum Jihadismus, andere waren bereits vor diesen Attentaten in jihadistische Aktivitäten verwickelt.

»Hallo Mama, ich bin am Leben!« Eine solche Botschaft an die Familie, die am Tag nach mörderischen Angriffen wie in Paris eintrifft, wird normalerweise mit Erleichterung und Freude aufgenommen. Doch bei Véronique Leroy war diese wohl schnell vorbei. Die telefonische Nachricht kam aus Raqqa, der Hochburg des »Islamischen Staats« (IS), der die Stadt im Nordosten Syriens 2013 eingenommen hat. Leroys Sohn hält sich nach Angaben der Schweizer Tageszeitung Le Temps seit Herbst 2014 als Kombattant in Raqqa auf. Er zählt zu den zahlreichen Konvertiten dort.
Die größte Anzahl von Jihadisten aus dem europäischen Raum, die sich in Syrien befinden – übertroffen allerdings durch die Zahl von Kombattanten aus arabischen Staaten, an erster Stelle Tunesien –, kommt aus Frankreich. Gemessen an der Einwohnerzahl kommt das stärkste Kontingent hingegen aus Belgien (siehe Seite 13). Einer Einschätzung französischer Nachrichtendienste zufolge, die die Tageszeitung Libération zitierte, befinden sich darunter 25 Prozent Konvertiten aus nichtmuslimischen Familien sowie 25 bis 30 Prozent Frauen. Letztere nehmen im IS spezifische Pflichten wahr. Sie werden nicht in bewaffneten Bataillonen eingesetzt, können allerdings eine Ausbildung an der Waffe »zum Selbstschutz« erhalten. Ansonsten dienen sie als Ehefrauen für Kämpfer sowie zur Adoption von Waisenkindern, und zumindest in Raqqa existiert auch eine aus Frauen bestehende Tugendterrorbrigade.
Aus Syrien rief auch der französische Konvertit Fabien Clain an, als er am 14. November das Bekennerschreiben des IS (Jungle World 47/2015) zu den Pariser Anschlägen verlas. Der 37jährige, der von der zu Frankreich gehörenden Insel La Réunion im Indischen Ozean kommt, lebte lange Zeit im Raum Toulouse. Er konvertierte bereits in den späten neunziger Jahren zu einer salafistischen Variante des Islam und war seit 2000 eine zentrale Figur der entsprechenden Szene in Südwestfrankreich. Clain und sein ebenfalls konvertierter Bruder Jean-Michel standen in enger Verbindung zu Mohammed Merah, der im März 2012 drei französische Soldaten, drei Kinder sowie einen Lehrer einer jüdischen Schule in Toulouse ermordete. Fabien Clain, der sich zu dem Zeitpunkt in Haft befand, distanzierte sich daraufhin allerdings öffentlich von Merah. Er selbst war zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, weil er als einer der Drahtzieher einer Organisation galt, die 2006 versucht hatte, Kampfeswillige über Syrien in Kriegszonen im Irak zu schleusen. Darüber hinaus war Clain auch häufig im von vielen Jihadisten als Hauptquartier genutzten Brüsseler Viertel Molenbeek anzutreffen.
Der Weg vieler Attentäter, die zu den drei in Paris koordiniert vorgehenden Kommandogruppen gehörten, führte offenbar über das Bürgerkriegsland Syrien. Wie die französischen Ermittler am Wochenende bekannt gaben, wurden die Fingerabdrücke von dreien der getöteten Täter im Laufe des Sommers in Griechenland registriert. Sieben Täter kamen während der Terroranschläge ums Leben, zwei weitere wurden bei einem Schusswechsel am Mittwoch voriger Woche in Saint-Denis bei Paris getötet. Allem Anschein nach hatten sich einige der Jihadisten unter die aus Syrien in die EU Geflohenen gemischt. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass es sich um syrische Flüchtlinge handeln muss. Ebenso plausibel ist, dass europäische Staatsbürger sich gezielt unter die Fliehenden mischten. Denn Flüchtlinge zu diskreditieren und Rassismus in der europäischen Öffentlichkeit zu schüren, ist ihnen ein Anliegen. Bereits Anfang September hatte der IS erklärt, Muslime dürften nur in einem islamischen Land leben. Zuflucht im ungläubigen Europa zu suchen sei »eine schwere Sünde«. Am Dienstag vergangener Woche berichtete die libanesische Zeitung L’Orient–Le jour unter Berufung auf jihadistische Quellen im Internet, der IS habe sich erneut an die sich in Europa aufhaltenden syrischen und anderen Muslime gewandt, um sie zur Ausreise aufzufordern.
Allerdings lebten die bislang identifizierten Tatbeteiligten, deren Vita rekonstruiert werden kann, durchaus inmitten der europäischen Bevölkerung und teilten weitgehend deren Lebensstil – bevor bei den meisten von ihnen eine sektenartige Bekehrung zur IS-Ideologie begann. Zwei der Selbstmordattentäter, die sich vor dem Fußballstadion in Saint-Denis, in Gaststätten und im Konzertsaal Le Bataclan im 11. Pariser Bezirk in die Luft sprengten, blieben bis Redaktionsschluss unidentifiziert. Die Echtheit eines beim Stadion aufgefundenen Reisepasses auf den Namen von Ahmad al-Mohammad – es handelt sich angeblich um einen 1990 in Idlib geborenen syrischen Staatsbürger – wird nach wie vor angezweifelt.

Bei den bislang zweifelsfrei enthüllten Täterprofilen handelt es sich um französische und belgische Staatsangehörige. Ihr Anführer war der 28jährige belgisch-marokkanische Doppelstaatsbürger Abdelhamid Abaaoud. Er war von seiner familiären Herkunft nicht dazu prädestiniert, zum sozialen Underdog zu werden, sein Vater war Kleinunternehmer und zählte zur aufstrebenden migrantischen Mittelschicht. Als Jugendlicher wurde Abaaoud auf eine katholisch geprägte Privatschule mit eher elitärem Anspruch geschickt, das Collège Saint-Pierre im Brüsseler Vorort Uccle. Dort langweilte er sich anscheinend, er war ein schlechter Schüler und trat meist unverschämt auf. Ein früherer Klassenkamerad sagte der belgischen Zeitung La Dernière heure, Abaaoud sei »ein Vollidiot gewesen, aber kein Extremist«. Für Religion habe er sich nicht interessiert. Einbruchsdelikte und ähnliche Straftaten brachten ihn zwischen 2006 und 2012 mehrfach bis zu drei Monate ins Gefängnis. Er sah sich offenbar als Gangster, der durch brutales Auftreten Anklang findet. 2013 reiste er nach Syrien, wohl im Glauben, dort seine Brutalität ausleben zu können, und nahm seinen 13jährigen Bruder Younès gegen den Willen der gesamten Familie mit. Aus bislang nicht geklärten Gründen konnte er, obwohl zur Fahndung ausgeschrieben – im Juli wurde er in Belgien in Abwesenheit zu 20 Jahren Haft verurteilt –, mehrfach ungehindert zwischen Syrien und der EU reisen. Im Februar 2014 wurde er etwa am Kölner Flughafen registriert, auch über Griechenland führt seine Spur.
Eine Cousine Abaaouds, die bei ihrem Tod 26jährige Hasna Aït Boulahcen, wuchs im Pariser Umland auf. Zuletzt stand sie offenbar unter dem Einfluss Abaaouds. Doch zuvor zeichnete sie sich eher durch einen dezidiert »unislamischen« Lebensstil aus. Als junge Erwachsene trug sie bevorzugt Cowboyhüte und Jeans, trank Bier und Whisky, und während eines Berufspraktikums im Elsass im Sommer 2011 zog sie Berichten früherer Freundinnen zufolge durch süddeutsche Diskotheken. In den vergangenen sechs Monaten trat eine Wandlung ein, sie bedeckte ihr Haar und sprach viel von den »Märtyrern« und Heldentaten des IS. Sie konnte weder Arabisch noch wies sie Korankenntnisse auf. Früher hatte sie gegenüber Bekannten davon gesprochen, sich für eine berufliche Laufbahn bei der französischen Armee bewerben zu wollen.
Im Kontext der jüngsten Attentate wurde Aït Boulahcen von ihrem Cousin vor allem dafür eingesetzt, die als Versteck dienende Wohnung in Saint-Denis zu finden und anzumieten. In der Nacht zum Mittwoch voriger Woche, in der die Schießerei begann, begab sie sich mit erhobenen Händen auf einen Balkon. Ihre letzten Worte als Erwiderung auf einen Aufruf der Polizei, sie solle ihrem »Freund« sagen, sich auf den Boden zu legen, waren: »Das ist nicht mein Freund!« Kurz darauf erschütterte eine Explosion die Wohnsiedlung unweit der Altstadt. Zunächst ging man davon aus, sie habe eine außereheliche Liaison zurückgewiesen und ein Selbstmordattentat begangen. Inzwischen steht fest, dass ein in der Wohnung befindlicher Mann seinen Sprengstoffgürtel betätigte – sie selbst trug keinen. Ihre Antwort, es handele sich nicht um ihren »Freund«, könnte dennoch auch ein Versuch gewesen sein, sich zu distanzieren und lebend davonzukommen.

Mit dem Leben davonkommen wollten eventuell auch manche der Todesschützen im Konzertsaal Le Bataclan. Polizeiliche Augenzeugen, die in zahlreichen Medien zu Wort kamen, sprechen davon, die Sprengstoffgürtel seien erst aktiviert worden, nachdem die Attentäter durch die Einsatzkräfte auf einem schmalen Korridor in die Enge getrieben worden seien. In ihrer Dienstagsausgabe zitiert die Tageszeitung Le Monde zudem Nachbarn der Wohnung in Bobigny, die von der Attentätergruppe um Brahim und Salah Abdeslam, die aus Belgien eingereist war, angemietet worden war. Sie sprechen von einem heftigen Streit zwischen den beiden Brüdern am Vorabend der Attentate. Brahim, der ältere, als weniger intelligent geltende Bruder, rief demnach dem jüngeren und aktiveren Salah Abdeslam – nach ihm fahnden die Polizeikräfte Frankreichs und Belgiens bei Redaktionsschluss noch immer – zu: »Ohne Zaster mache ich es nicht, ohne Zaster gehe ich nicht hin.« Trifft diese Version zu und steht diese Aussage in einer Verbindung mit den Attentaten, dann betrachtete zumindest dieser Attentäter sie eher wie ein gewöhnliches Verbrechen denn als an eine Himmelfahrt. Die beiden Brüder hatten zuvor eine Kneipe in Brüssel betrieben, die im Frühherbst wegen manifesten Haschischkonsums polizeilich geschlossen wurde.
Wiederum ein anderes Täterprofil weist der 28jährige Samy Amimour auf. Der als verschlossen und oft abweisend beschriebene frühere Busfahrer aus der nördlichen Pariser Banlieue hatte ab etwa 2011 in einen sektenartigen Selbstmissionierungsprozess begonnen. Er stammt aus einer laizistischen Familie, nach Bekunden seines Vaters betete niemand in der Familie. Als der Sohn damit begonnen habe, habe er versucht, es ihm gleichzutun, »um nicht den Kontakt zu ihm zu verlieren«. 2012 hinderte die Justiz Amimour an einem ersten Versuch, in den Jemen zu reisen, wo zahlreiche Jihadisten unterschiedlicher Couleur aktiv sind, und sein Pass wurde eingezogen. Dennoch gelang es ihm 2013, sich nach Syrien durchzuschlagen. Sein damals 67jähriger Vater Mohammed reiste ihm im vorigen Jahr nach, um zu versuchen, den Sohn zurückzugewinnen. Vergeblich. Zwar reiste Samy eigens zu dem Gespräch mit einem Begleiter aus Raqqa in eine andere Stadt, doch Vater und Sohn wurden nie miteinander alleingelassen. Samy habe wie nach einer Gehirnwäsche gewirkt, berichtete Mohammed Amimour Le Monde.