Europa versagt in der Flüchtlingspolitik

Kleinliche Kleinstaaterei

Wer mit dem Philosophen Jürgen Habermas davon ausging, das 21. Jahrhundert sei das Zeitalter der »postnationalen Konstellation«, reibt sich vermutlich verwundert die Augen ob der Renaissance des Nationalismus. Das Versagen Europas in der Flüchtlingspolitik wird dabei mit einem möglichen Scheitern der europäischen Integration in Verbindung gebracht. Dublin III hat maßgeblich dazu beigetragen.

Die deutsche Bundesregierung kritisiert lautstark die mangelnde Bereitschaft der anderen EU-Mitgliedstaaten zur Aufnahme von Asylsuchenden. In der Vergangenheit war Deutschland Profiteur der Dublin-III-Verordnung, nach der Schutzsuchende ihren Asylantrag im ersten europäischen Land stellen müssen, das sie betreten. Für die nicht selten menschenrechtswidrige Situation in Griechenland oder Italien interessierte man sich nicht. Die Europäische Union hatte Ende der neunziger Jahre beschlossen, ein »gemeinsames europäisches Asylsystem« zu schaffen, und hierfür Richtlinien erlassen, die einheitliche Standards für Asylverfahren, die Aufnahme von Flüchtlingen und die Zuerkennung internationalen Schutzes umfassen. Viele EU-Staaten – auch Deutschland – haben es versäumt, die menschenrechtlichen und sozialen Standards effektiv umzusetzen. Gelder flossen dagegen in die Grenzsicherung durch die Agentur Frontex und die Etablierung des Grenzüberwachungssystems Eurosur.

Besonders sticht die Abschottungspolitik der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán hervor. Er verweigert sich kategorisch jedweder europäischen Lösung zur Aufnahme von Asylsuchenden. Dies zeigt, wie hegemonial der völkische Nationalismus in Ungarn geworden ist. Bei der Änderung des ungarischen Grundgesetzes im Jahr 2011 wurde eine umfangreiche Präambel aufgenommen, in der ethnische Minderheiten explizit aus der Definition der ungarischen Nation ausgeschlossen bleiben (Jungle World 40/2013). Vor diesem Hintergrund ist die Abwehrhaltung der Fidesz-Regierung gegenüber Flüchtlingen nur konsequent: Jeder Flüchtling wird als Angriff auf die völkische Ideologie verstanden, den Kern der »nationalen Revolution« von Orbán.
Nach den jihadistischen Terroranschlägen in Paris verschärft sich die Haltung vieler Staaten gegenüber Flüchtlingen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR warnte die »internationale Staatengemeinschaft« davor, Flüchtlinge und Terrorismus in einen Zusammenhang zu stellen. Dabei besteht der Zusammenhang gerade darin, dass viele Flüchtlinge vor dem »Islamischen Staat«, Boko Haram oder den Taliban fliehen. Dennoch entschied beispielsweise die neue polnische Regierung, sich an der Verteilung von Flüchtlingen nicht weiter zu beteiligen. Ihr Außenminister Witold Waszczykowski schlug sogar vor, aus den »100 000 jungen Syrern« eine Armee zu bilden und sie zur Rückeroberung »ihres Staates« zurückzuschicken. Auch in den USA entziehen sich nunmehr viele Bundesstaaten den Aufnahmeprogrammen für Flüchtlinge.

In Deutschland vollzieht sich derweil ein beispielloser Angriff auf das Asylrecht, der zugleich mit einer Abkehr von Fortschritten im internationalen Flüchtlingsrecht einhergeht. Die CSU ruft bereits seit Wochen nach einer Obergrenze für Asylsuchende, unterstützt von Juristen wie dem Staatsrechtler Rupert Scholz, der sich offenbar seit den neunziger Jahren nicht mehr mit den Entwicklungen im Flüchtlingsrecht auseinandergesetzt hat. Ins gleiche Horn stoßen der grüne Oberbürgermeister Tübingens, Boris Palmer, und die Taz-Journalistin Barbara Dribbusch. Diese schrieb in ihrem Artikel »Gegen den linken Größenwahn«, dass die Debatte über Obergrenzen erlaubt sein müsse und das »O-Wort« kein Tabu sein dürfe. Jedoch kennt weder die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) noch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) oder die EU-Asylverfahrensrichtlinie eine Obergrenze beim Asyl. Diese Vorgaben ermöglichen gerade den Zugang von Schutzsuchenden zum Asylverfahren.
Eine Änderung des Asylrechts nach nationalstaatlichem Gusto ist in Zeiten transnationaler Rechtsgeltung nicht ohne weiteres möglich. Die Befürworter von Obergrenzen verschweigen, dass Deutschland bei ihrer Einführung konsequenterweise aus der EU austreten und seine Unterschriften unter die GFK und EMRK zurückziehen müsste. Da auch Innenminister Thomas de Maizière (CDU) um diese Probleme weiß, versucht er mit Vorschlägen wie der Beschränkung des Familiennachzugs von anerkannten Flüchtlingen oder durch Reaktivierung der Dublin-Abschiebungen eine faktische Obergrenze herbeizuführen.
Der »kurze Sommer der Migration« wurde in Deutschland spätestens mit der Verabschiedung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes beendet. Leistungseinschränkungen für Flüchtlinge, neue »sichere Herkunftsstaaten« und mehr Abschiebungen ohne Ankündigung sollen Asylsuchende abschrecken – das Gesetz ist Ende Oktober in Kraft getreten. Sahra Wagenknecht hätte als Fraktionsvorsitzende der Linkspartei und Oppositionsführerin bei der Aussprache im Bundestag am 15. Oktober das Gesetz und seine Folgen kritisieren können. Sie sprach stattdessen über die US-Militärinterventionen als Quell der »Flucht­ursachen« und mögliches Lohndumping als Folge des Zugangs von Flüchtlingen auf den Arbeitsmarkt. In die gleiche Richtung zielen ihr Parteifreund Diether Dehm, der einen »unlimitierten Flüchtlingszustrom für auf Dauer nicht rechtlich darstellbar« hält, und der ehemalige Parteivorsitzende Oskar Lafontaine, der bereits jetzt eine Begrenzung des »Flüchtlingszuzugs« fordert. Anfang Dezember steht zudem die nächste Asylrechtsverschärfung an, durch die bestimmte Flüchtlingsgruppen nur beschleunigten Asylverfahren mit eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten durchlaufen und schneller abgeschoben werden sollen.

Schließlich intervenierte auch der slowenische Philosoph Slavoj Žižek in die Debatte um die Asylpolitik. In einem Gastbeitrag für die Zeit unterbreitete er Vorschläge zur »Flüchtlingsfrage«. Neben allgemeinen Ausführungen zur Kapitalismuskritik verlangt Žižek eine staatliche Kontrolle des Flüchtlingsstroms und eine Verteilung der Flüchtlinge auf alle EU-Staaten: »Die Flüchtlinge sollen sich sicher fühlen können, es sollte ihnen aber auch klargemacht werden, dass sie den Wohnort akzeptieren müssen, der ihnen von den europäischen Behörden zugewiesen wird, und dass sie die Gesetze und sozialen Normen der europäischen Staaten achten müssen.« Damit formuliert Žižek zwar ein europäisches Projekt der Flüchtlingsaufnahme, jedoch ist sein als Utopie vorgetragener Vorschlag längst die realpolitische Linie der EU-Kommission, die eine Quotenverteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten fordert. Dass eine solche bürokratische Zwangsverteilung ohne Berücksichtigung der Anliegen von Flüchtlingen zum Scheitern verurteilt ist, zeigt das Dublin-III-System, das auf vergleichbaren Annahmen fußt. Warum sollte beispielsweise ein afghanischer Flüchtling in Frankreich bleiben, wenn seine besten Freunde oder gar Verwandten in Schweden sind? Dublin III hat in seiner Praxis gerade die nationalistische Konkurrenz der Staaten befördert, weil nicht die EU als Ganzes für die Aufnahme von Flüchtlingen verantwortlich ist, sondern weiterhin die Nationalstaaten.
Hier ergibt sich derzeit ein Problem. Die Forderung nach offenen Grenzen hat sich teilweise erfüllt. Zwar werden an vielen Landgrenzen neue Zäune oder Begrenzungen errichtet. Jedoch schaffen es zumindest diejenigen Schutzsuchenden, die über die lebensgefährlichen Seewege nach Europa gelangt sind, in Elendstrecks irgendwann nach Deutschland. Die emanzipatorische Forderung nach offenen Grenzen müsste sich jedoch von einem neoliberalen anything goes unterscheiden. Das Verhältnis zwischen offenen Grenzen, der sozialen Frage und politischen Beteiligungsmöglichkeiten ist zentral. Diskutiert werden sollte, wie das nationalstaatliche Gefüge verlassen und zugleich Schutzsuchenden ein Anspruch auf soziale Sicherung eröffnet werden kann. Diese Frage kann nur ohne das populistische und nationalistische Gerede von der Obergrenze beantwortet werden.