70 Jahre Fußball-Oberliga Süd

Zerschlissene Kluften

Vor rund 70 Jahren wurde die Fußball-Oberliga Süd gegründet. Ein Rückblick.

Als im ablaufenden Jahr zahlreiche Filme und Artikel den 70. Jahrestag der Befreiung zum Anlass nahmen, auf die ersten Monate der Neuordnung in der Bundesrepublik zurückzublicken, blieb ein Aspekt nahezu komplett ausgeblendet: der Sport. Dabei könnte diese Übergangszeit aufschlussreich sein: Welche Versatzstücke der NS-Ideologie und welche Lebenslügen überlebten, als »der deutsche Sport 1945 aus Schutt und Asche langsam wieder zum Leben erwachte«, wie es der bekannte Sportjournalist Richard Kirn formulierte? Was für ein Umgang mit der Vergangenheit entwickelte sich unter den Vertretern des Sports und den Sportjournalisten?
Einen Anlass, auf diese Phase zu blicken, bietet die Gründung der Fußball-Oberliga Süd. Sie startete vor fast genau 70 Jahren: am 4. November 1945. Sie war die erste von vier Oberligen, die, gemeinsam mit der Berliner Stadtliga, die höchste Spielklasse bildeten, ehe der DFB 1963 die Bundesliga einführte.
Die Idee für die neuartige Liga stammte von drei Fußballfunktionären aus Stuttgart: Gustav Sackmann, Ernst Schnaitmann und Fritz Walter. Bei der Zusammenstellung ließen sie sich offenbar vor allem von der Maßgabe leiten, dass es möglichst viele Derbys geben sollte. Deshalb durfte zum Beispiel neben Phönix Karlsruhe, der 1952 im KSC aufging, auch der sportlich in jenen Jahren nur noch wenig erfolgreiche Karlsruher FV (der 1910 deutscher Meister geworden war) in der neuen Liga mitspielen. Die genauen Kriterien für die Auswahl seien »nie bekannt geworden«, schreibt der Fußball-Historiker Werner Skrentny in seinem Oberliga-Süd-Buch »Als Morlock noch den Mondschein traf«.
Die »Vereinigung der Oberligavereine« schuf eine Liga für die gesamte amerikanische Zone. Hardy Grüne und Claus Melchior schreiben in »Die Löwen«, einem Buch zur Geschichte des in der neuen Liga spielenden TSV 1860 München, »die Überwindung der ›Kleinstaaterei‹« im deutschen Ligenfußball sei vorher »wiederholt an der Dickköpfigkeit einzelner Vereins- oder Verbandsvertreter gescheitert«. Die Oberliga-Erfinder aus Stuttgart profitierten nun davon, dass »es keine Verbände mehr gab« und die »ahnungslosen Amerikaner« ihren Plan absegneten. Tatsachen schaffen in unübersichtlichen Zeiten – Vorreiter und solche, die sich dafür halten, tun so etwas gern.
Angesichts chaotischer Zustände in vielen Bereichen des Alltags habe die Gründung der Oberliga Süd »märchenhafte Züge« gehabt, meinen Grüne und Melchior. Als »es kaum andere Reisemöglichkeiten als anstrengende Fußmärsche gab, existierte plötzlich eine noch nie dagewesene Fußballspielklasse, die Münchner Vereine bis hinauf nach Offenbach führte!« Man kann es aber auch so sehen, dass diese Neustrukturierung zum politischen Umbruch passte.
Vergleichbar »Märchenhaftes« war in den anderen Besatzungszonen vorerst nicht möglich. Im Westen spielte man noch 1946/47 in sechs verschiedenen Ligen. In einem Teil der französischen Zone gründete sich zwar bereits am 20. Januar 1946 eine Spielklasse, die den Begriff Oberliga im Namen führte. Sie setzte sich aber nur aus Vereinen der heutigen Bundesländer Rheinland-Pfalz und Saarland zusammen. Das Einzugsgebiet dieser Spielklasse, aus der sich letztlich die Oberliga Südwest entwickelte, änderte sich peu à peu.
Zu den außergewöhnlichen Umständen im ersten Jahr der Oberliga Süd gehörte, dass viele Klubs ihre angestammten Stadien nicht nutzen konnten. Der 1. FC Nürnberg etwa musste seine Heimspiele im Fürther Ronhof austragen, also auf der Anlage des ärgsten Rivalen. Grund: Die US-Amerikaner hatten die Spielstätten des FCN beschlagnahmt. In Fürth fand auch die aus heutiger Sicht namhafteste Paarung des ersten Oberliga-Spieltages statt: Die Nürnberger trafen auf den FC Bayern und gewannen mit 2:1. 16 000 Zuschauer waren dabei.
In der Premierensaison fiel trotz der rudimentären Verkehrsinfrastruktur erstaunlicherweise kein Spiel aus. In anderer Hinsicht verlief die Saison aber nicht in geordneten Bahnen: Der VfB Stuttgart, der erste Oberliga-Meister, bekam ausgerechnet in der entscheidenden Phase der Saison ein sehr nettes Geschenk. Wegen einer Platzsperre für 1860 München wurde das Auswärtsspiel des VfB gegen ebendiesen Gegner am vorletzten Spieltag zu einem Heimspiel umgemodelt. Und die Karlsruher Vereine, die die beiden letzten Plätze belegten, hätten eigentlich absteigen müssen, »doch weil sie so exzellente Verbindungen zu den Militärbehörden besaßen und der US-Profi-Sport keine Absteiger kennt« (Werner Skrentny), durften sie auch in der Saison darauf ganz oben mitspielen.
Auch der eine oder andere namhafte Spieler profitierte von exzellenten Verbindungen. Über die Situation des 1. FC Nürnberg und einen seiner damaligen Spieler schreibt Hans-Dieter Baroth in dem Buch »Anpfiff in Ruinen«: »Die Kluften des Clubs sind zerschlissen, die Socken der Spieler mehrfach geflickt. In dieser Zeit bekommt der frühere Nationalspieler Willi Billmann zusätzlich einige Lebensmittelkarten zugeschoben: von Sepp Herberger, der als ehemaliger Angestellter des Reichsamtes für Sport Berufsverbot hat. Offensichtlich wird Herberger heimlich gesponsert, und einen ausgesuchten Kreis von meist süddeutschen Nationalspielern lässt er durch die Zusendung von Karten daran teilhaben.«
Am ersten Spieltag der Oberliga Süd erschien erstmals das Sportprogramm, ein Vorläufer des 1946 gegründeten Sport-Magazins, das wiederum 22 Jahre später mit dem kicker fusionieren sollte. 1956 erschien eine Sonderausgabe zum zehnjährigen Jubiläum, in der einige Autoren rückblickend über den Übergang zwischen Krieg und Frieden sinnierten. Aus einem der Texte stammt der eingangs zitierte Satz Richard Kirns. »Der Sport hatte lange standgehalten, aber in den letzten Zuckungen des Krieges war auch er erschlagen worden. Wo die Tiefflieger regierten, stündlich Alarme die Städte veröden ließen, war kein Spiel mehr möglich«, schrieb er unter anderem. Da klingt an, als habe der Sport auf eine wie auch immer geartete Weise Widerstand gegen den Krieg geleistet, dem er dann doch zum Opfer fiel.
In dem Artikel erinnert sich Kirn an das erste Spiel, das er nach Kriegsende sah: das Frankfurter Derby zwischen dem FSV und der Eintracht im April 1946 in der ersten Oberliga-Saison. »Man sah Menschen, die man tot geglaubt hatte, wieder. Fünf Jahre Krieg lagen hinter uns, und was für ein Krieg, aber da waren sie: bleich, abgemagert, die Kleider schlotterten vielen am Leibe, aber: sie lebten. Na klar, Mensch, was hast du denn gedacht? Aber man sah die anderen nicht. Den Braven, der sonst in der Kurve stand und jetzt in den Sümpfen von Wolynien begraben lag, der in einem Panzer in Afrika starb, in einem Fernaufklärer über England abgeschossen wurde, mit einem rostenden U-Boot auf dem Grund des Atlantik ruhte.«
Hinter den Erinnerungen an persönliche Schicksale verschwindet hier praktisch alles andere. Wobei in diesem Fall nicht einmal klar ist, ob Kirn hier die konkreten Schicksale Frankfurter Fußballfans skizzierte, oder ob er seinen literarischen Fähigkeiten freien Lauf ließ. Kirn war auch als Romanautor tätig und überarbeitete zudem das Drehbuch für den 1941 entstandenen Fußballfilm »Das große Spiel«.
An anderer Stelle in der Jubiläumsausgabe des Sport-Magazins von 1956 schreibt ein gewisser M. Steinbrecher über seine Zeit in einem Kriegsgefangenenlager in der Sowjetunion. Von Radioschwarzhörern aufgeschnappte Schlagworte wie »Oberliga« und andere Nachrichten, »die uns sagten, dass früher als gedacht der Sport in der Heimat wieder auflebte«, sorgten bei ihm offenbar für ein bisschen Seelenfrieden. Über den Zeitpunkt, an dem er von einem frühen Nachkriegs-Freundschaftsspiel zwischen dem 1. FC Nürnberg und Schalke 04 erfuhr, schreibt er: »Für mich war von diesem Tag an die Heimat näher gerückt – und damit der Glaube an ein Wiedersehen.«
Als im Sommer 1948 der 1. FC Nürnberg das erste Nachkriegsendspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern mit 2:1 gewinnt, ist M. Steinbrecher noch im Lager inhaftiert. Dieser Sieg ist Beleg süddeutscher Dominanz in jener Zeit und zeigt, dass sich die frühe Oberliga-Gründung in der amerikanischen Zone gelohnt hatte. Denn nach Nürnberg werden auch in den nächsten beiden Jahren Teams aus dem Süden deutscher Meister – zunächst der VfR Mannheim, dann der VfB Stuttgart.