Die linke Utopie der Abschaffung von Grenzen

Die Linke und ihre Grenzen

Von Marx bis M.I.A. Eine pop-philoso­phische Geschichte der linken Utopie von der Abschaffung nationaler Grenzen.

»Die Arbeiter haben kein Vaterland«, heißt es im »Manifest der kommunistischen Partei«; die einzige Grenze, die das Proletariat zunächst akzeptiert, ist die Grenze zum Klassenfeind, die unterscheidet, wer über Produktionsmittel verfügt und wer nichts weiter hat als seine Arbeitskraft. Und diese Grenze gilt es durch die Revolution zu beseitigen, denn sie steht aller menschlichen Freiheit im Weg, ja dem Menschen überhaupt. So skizziert es die emanzipatorische Theorie und Praxis im 19. Jahrhundert, wo immerhin noch galt: Die nationalen Grenzen sind zum Überschreiten da, die Arbeiterklasse kämpft international – »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Erst wenn das passiert ist, wird der Blick frei für das, was wirklich hinter dem Horizont liegt. Das Reich der Freiheit liegt jenseits des Reichs der Notwendigkeit. Insofern ist der diesen Horizont und überdies sowieso alle territorialen Grenzen überschreitende Kommunismus als »Grenzbegriff« konzipiert, nämlich als Idee, die Erkenntnisse zwar umgrenzt und dennoch zugleich auf etwas hinter der Grenze Liegendes verweist.
Das war die unbegrenzte, undefinierte Utopie des 19. Jahrhunderts: Grenzen gab es damals nur als Front, als Standpunkt ganz vorne in der Geschichte oder wenigstens auf der Barrikade. Alles sollte in Auflösung begriffen sein, die bürgerliche Gesellschaft selbst machte das: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« Denn, so heißt es weiter im »Kommunistischen Manifest«: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.«

Doch es sollte anders kommen. Zwar hat der Universalismus des kapitalistischen Warenverkehrs Verbindungen geschaffen und das Heilige – dazu gehören durchaus auch die alten heiligen Grenzen – entweiht, doch nicht zuletzt geschah das, um über die Verbindungen des Verkehrs die Grenzlinien als Mauern aufzustocken, die entweihten Grenzen mit Stacheldrahtzaun zu festigen, einzusperren und auszuschließen. Das Proletariat vereinigte sich, doch verkehrt – national – und zog begeistert in den Krieg. Die neuen Fronten hießen jetzt nicht mehr progressiv experimentum mundi – gemeint als nach vorne weisender Weg revolutionärer Selbstüberschreitung und Entdeckung des Unbekannten – sondern reaktionär-mörderisch Verdun und Marne, und einen Weltkrieg später Stalingrad. Hinter der Grenze steht der Feind. Und vor der Grenze auch. Grenzen sind Todeslinien – und bleiben es fortan auch, getarnt als Schutzwall der Festung Europas.
In dieser Zeit notierte Walter Benjamin für sein Fragment gebliebenes »Passagen-Werk«: »Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹ und diese Bedeutungen hat die Etymologie nicht zu übersehen.«
Es kommt nicht von ungefähr, dass die nationalen Befreiungsbewegungen von solcher Schwellenkunde nichts wissen wollten, sondern stattdessen Grenzen setzten: neue heilige Grenzen eines als Nation vergötterten Staatssozialismus, zudem neue repräsentative Grenzen zum Schutz der eigenen politischen Identität. Während Benjamin sich die Notizen über Schwelle versus Grenze machte, konstatierte Mao Zedong eindringlich: »Wenn wir vom Feind bekämpft werden, dann ist das gut; denn es ist ein Beweis, dass wir zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich gezogen haben.«
Auch nicht von ungefähr kommt, dass die RAF – d. i. mutmaßlich Ulrike Meinhof – sich Maos Worte vom Mai 1939 für das »Konzept Stadtguerilla« vom April 1971 nahm und sie zur Parole »Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen« modelte.

In der so eingegrenzten Welt schien klar, wer Feind ist, wer Freund. Gerade die antiimperialistische Linke hat, Lenin, dem Bolschewismus und schließlich der Doktrin folgend: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, die verwaltete Welt als Repressionsapparat in seiner repressiven Struktur von Exklusion und Inklusion bloß wiederholt. Partei und Organisation reproduzierten unumwunden in einer rigiden Grenzziehungspolitik die bürger­liche Kälte. Paradox unternahm es indes die bürgerliche Gesellschaft selbst zur gleichen Zeit – in den siebziger Jahren – zumindest zum Schein, solche Kälte vertreiben zu wollen: Während die poli­tischen Grenzen gegen die äußeren und inneren Feinde gesichert wurden, mit Grenzschutztruppen und Militär, wurde sukzessive versucht, Leslie A. Fiedlers postmodernes Kulturprogramm »Cross the Border – Close The Gap« umzusetzen, und nämlich, nicht zuletzt aus kulturindustriell profitablen Erwägungen, die Grenze zwischen Hoch- und Massenkultur einzureißen, die Lücke zwischen E und U zu schließen. (Die spätkapitalistische Gesellschaft reflektiert ohnehin in dieser Zeit erstmals ihre immanenten Beschränkungen, und zwar nicht nur die kulturellen, sondern auch – sichtbar geworden durch die Ölkrise – ökonomischen, so etwa im Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, der 1972 unter dem heute längst zur Redensart geronnenen Titel »Die Grenzen des Wachstums« erschien.) Was dem folgte, war weniger eine (linke) Beschäftigung mit den politischen Grenzen, sondern – in aller Dynamik und Aporie – die am individuellen Lifestyle orientierte Sorge um die »persönlichen« Grenzen: Selbsterfahrung, die eigenen Limits kennenlernen. Das war immerhin auch ein bisschen Schwellenkunde oder Selbstentgrenzung, vielfach aber einfach nur Vermauerung, Rückzug ins Private. Die politischen Grenzen berührte das nicht; vielmehr konnten sie ausgebaut werden und werden bis heute ausgebaut, nun auch noch mit elektronischer Überwachungstechnik ausgestattet. Ende der siebziger Jahre gibt es noch Peter Gabriels »Games without frontiers«, und das war’s dann erst einmal – bis in den ausgehenden Neunzigern dann die Parole »No border, no nation!« auftauchte.
In Hinblick auf die Weltlage blieb diese konkret sehr richtige Forderung jedoch merkwürdig ab­strakt, inadäquat, harmlos. Obwohl Grenzsicherung immer mehr von den Grenzen weg in die allgemeinen Kontroll- und Überwachsungsinstanzen der verwalteten Welt ausgelagert wird (Erweiterung der Zuständigkeitsbereiche des Bundesgrenzschutzes, Ausländerbehörde, Militarisierung), werden die Grenzanlagen zu Bollwerken ausgebaut. Die Trümmer der Berliner Mauer sind in die Fundamente der Festung Europa einzementiert worden. Gerade im Schatten der von Michael Hardt und Antonio Negri 2000 in »Empire« behaupteten Destabilisierung des souveränen Nationalstaats wurden offenbar dessen Grenzen umso mehr gesichert, erhöht, betoniert. Manche Grenze geriet dabei so imposant, dass einfältige Gemüter ohne weiteres mit Ressentiments, Graffiti und Street Art sofort drauf einschnappen konnten, etwa an der Mauer zum Westjordanland.
So stößt die Kritik der Grenzen an die Grenzen der Kritik; zumal, wo auch die linke Theorie oder das, was von ihr übrig ist, mehr von spektakulären Bildern abhängt als von reflektierten Begriffen.

Gleichwohl überrascht insofern »Borders«, der neue Song von M.I.A. Zusammen mit dem dazugehörigen, von ihr selbst choreografierten Video ist der Song mehr als symptomatisch, wo doch Pop ohnehin im Bereich der Embleme operiert. So nämlich auch die Politprovokation von M.I.A., die übrigens diesmal erfreulicherweise ganz ohne den sonst üblichen Antiimperialismus auskommt. Erfreulich, weil es mittlerweile für die Ikonografie des geistlosen Wutbürger-Pop so stupide obligat scheint, zu jedem Bild der Flucht, der Not, des Terrors und des Krieges die paranoide Idolatrie palästinensischer Kinder vor israelischen Panzern zu montieren. Erfreulich aber auch, weil M.I.A. mit diesem Song in zwar drastischer, dann aber doch überlegter Weise versucht, das sogenannte Flüchtlingsproblem als grundsätzliches Problem der spätbürgerlichen Gesellschaft zu inszenieren – und eben nicht als Problem von Menschen, für die man sich nur deshalb interessiert, weil sie, mit allen dazugehörigen rassistischen und sonstigen eurozentrischen Zuschreibungen, im Bild der Flucht erscheinen. Dieses Bild ist längst zum Stereotyp verfestigt. Auf die einmal linksradikal affizierte Parole »Refugees welcome« hat man sich nunmehr christdemokratisch geeinigt; das Elend der Menschen auf der Flucht will man sehen, um die gutmenschliche Einigkeit darüber zu stärken, dass man dieses Elend nicht sehen will.
M.I.A. skandalisiert das mit ihrem Song »Borders«: Sie zeigt Menschen, die für Europa deshalb als »Flüchtlinge« und nur als »Flüchtlinge« existieren, weil sie Europas Grenzen überschreiten wollen und müssen – ohne Recht und Freiheit dazu. Die Festung Europa schützt dieses Recht und diese Freiheit vor denen, die dieses Recht und diese Freiheit nicht haben. Das vermeintliche Flüchtlingsproblem ist ein Problem der Grenzen, die als nationalstaatlich-politische nicht nur frontiers sind, sondern borders. Die Menschen, die im Video von M.I.A. zu sehen sind, sind Stereo­typen (tatsächlich: »echte« Geflüchtete); dass sie fliehen, ist sofort zu sehen. Sie fliehen aber durch ein unwirtliches Niemandsland. Die einzigen Grenzen, die es in dieser Ödnis gibt, sind die fliehenden Menschen selbst: Sie bilden Ketten, Reihen, Sperren, sind zu einem Boot formiert. Die Menschen erwartet nichts, sie wirken leblos, sie sterben. Aber sie sterben nicht, weil sie Menschen sind, sondern weil sie eben nur als »Flüchtlinge« existieren. Eine Grenzsituation, die ganz im Sinne der Existenzphilosophie in die Verzweiflung mündet.
»Freedom, I’dom, Me’dom/Where’s your We’dom?/This world needs a brand new Re’dom.« Das »Wir«, das M.I.A. fordert, ist der Schlüssel; was sich wie »a brand new rhythm« anhört, ist gemeint als »brand new Revolution«. Wie eine solche Revolution aussieht, wird nicht gesagt. Stattdessen stellt der Song alles in Frage, was bisher – auch in der Linken – so selbstverständlich definiert schien (Definition = Begrenzung!): die Werte, die Ziele, die Politik, die Familie, die Freunde, die Liebe und immer wieder die Freiheit und die Grenzen. Wittgensteins philosophischer Sinnspruch »Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt« wird nebenbei als Ideologie enttarnt: Die Welt, die durch die Sprache begrenzt wird, ist größer als die Welt, die für einen Großteil der Menschen auf diesem Planeten ein beschämend begrenztes Elend ist.