Ein ethisches Problem?

Man kann die Fähigkeit, Ausreden zu erfinden, zu den bedeutenden Kulturtechniken zählen, die weiterentwickelt wurden, seit Adam mit dem Verweis auf Eva und Eva mit dem Verweis auf die Schlange nicht durchkamen. Ein talentierter Übeltäter kann die Ausrede sogar zu einem Kunstwerk erheben, das Bewunderung abnötigt, mag man auch kein Wort glauben. Allerdings muss die Ausrede einen gewissen Realitätsbezug wahren und auf die Bedürfnisse des Publikums zugeschnitten sein. Dass deutsche Politiker und Manager diese Kunst nicht beherrschen, liegt wohl vor allem an den geringen Ansprüchen des Publikums. Meist genügt ein schlichtes »Ich kann mich nicht erinnern« (Politiker) oder »Davon wusste ich nichts« (Manager), um sich aus der Affäre zu ziehen. Probleme treten dann auf, wenn ein Deutscher sich in den USA rechtfertigen muss.
»Wir haben nicht gelogen«, behauptete der VW-Vorstandsvorsitzende Matthias Müller in einem Interview mit dem US-Radiosender NPR. Der Betrug bei den Abgaswerten »ein ethisches Problem? Ich kann nicht verstehen, warum Sie das sagen.« Man hatte nur »nicht die richtige Interpretation des amerikanischen Gesetzes«. Interviews werden in den USA nicht autorisiert, NPR gab Müller, dessen Berater ihn wohl auf das PR-Desaster aufmerksam gemacht hatten, jedoch die Gelegenheit zu einer Richtigstellung, in der er einräumte, VW habe gegen Gesetze verstoßen, und sich dreimal entschuldigte. Auch das dürfte nicht genügen, um Politiker, Ermittler und Öffentlichkeit in den USA milde zu stimmen, und dies müsste eigentlich Müllers Ziel sein, denn VW droht eine Strafe von 18 Milliarden Dollar, die zu reduzieren eine politische Entscheidung ist. Doch in einem der provinziellsten Weltkonzerne des Planeten ist man offenbar noch zu sehr an die deutsche Kuschelkultur im Umgang mit corporate crime gewöhnt. Medien und Politiker sorgen sich vornehmlich um VW und den Standort, nicht selten wird eine US-Verschwörung angedeutet. Auch die Justiz ist nicht sehr anspruchsvoll. »Wir können uns nicht beklagen über die Zusammenarbeit mit dem Unternehmen VW«, sagt der in Deutschland für die Ermittlungen zuständige Oberstaatsanwalt Klaus Ziehe. »Unsere Geduld mit Volkswagen geht zu Ende«, sagt hingegen der New Yorker Generalstaatsanwalt Eric T. Schneiderman. Die Zusammenarbeit sei »mehr von der Art, die man von einem leugnenden Unternehmen erwartet«. VW bleibt aber wohl auch nichts anderes übrig, denn es ist schwer zu glauben, dass die Manager von einem so groß angelegten Betrug zehn Jahre lang nichts bemerkt haben. Und allzu viel zu verlieren hat der Konzern nicht. Sollte VW die Milliardenstrafe nicht bezahlen können, wird die Rettung des Unternehmens eine nationale Aufgabe sein, der sich die niedersächsische Landes- und die Bundesregierung nicht entziehen werden.