Die Debatte in Großbritannien über den EU-Austritts Großbritanniens

Spaltung auf der Insel

Der britische Premierminister David Cameron feiert sich für die Durchsetzung seiner Forderungen beim Brüsseler Gipfel und wirbt für den Verbleib in der EU. Doch der Ausgang des Referendums ist offen.

Um Superlative ist ein Politiker wie David Cameron nie verlegen, zumal wenn es um seine politische Zukunft geht. Er könne den Briten »das beste beider Welten« versprechen, sagte der britische Premierminister, nachdem er aus Brüssel zurückgekehrt war. Die EU-Mitgliedschaft mache sein Land noch »sicherer, stärker und besser«. Cameron hatte sich bei den Verhandlungen mit den anderen EU-Regierungschefs als Kämpfer für mehr britische Rechte inszeniert und diese seiner Ansicht nach schließlich auch erhalten.
Stolz präsentierte er daher am Samstag in London die Ergebnisse und kündigte ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union für den 23. Juni an. Dass ihm eine Mehrheit aber keineswegs sicher ist, zeigte sich am selben Tag. Sechs Kabinettsmitglieder, darunter Justizminister Michael Gove, erklärten, dass sie Cameron bei dem Referendum nicht unterstützen würden. Gove begründete dies unter anderem damit, dass die EU-Politik Terroristen erlaube, sich frei auf dem Kontinent zu bewegen. Der Premierminister hatte den Mitgliedern seiner Regierung zuvor die Entscheidung freigestellt. Zudem hat sich der populäre Londoner Bürgermeister und ehrgeizige Tory, Boris Johnson, am Sonntag für den Austritt ausgesprochen. Johnson ist für Cameron gefährlich, weil er auch Wähler jenseits der konservativen Klientel überzeugen kann.
Die Entscheidungen zeigen, wie gepalten die Tories in der europäischen Frage sind. Nach seinem Amtsantritt 2010 hatte Cameron noch versucht, einen Volksentscheid zu vermeiden. Es sei »die falsche Antwort für Großbritannien«, sagte er damals. Mittlerweile sucht er die Konfrontation, um die endlose Debatte in seiner Partei zu beenden.
Umfragen zufolge ist jeweils rund ein Drittel der Briten für beziehungsweise gegen den EU-Austritt. Bei den Unentschiedenen neigt eine knappe Mehrheit noch zum Verbleib. Diese will Cameron in den kommenden Monaten überzeugen, unter anderem mit Forderungen wie jener, Sozialleistungen für EU-Ausländer zu kürzen. Demnach sollen sich künftig die Kindergeldzahlungen an EU-Ausländer, deren Kinder im Herkunftsland leben, am dortigen Lebensstandard ausrichten. Steigt zudem die Zuwanderung auf ein »außergewöhnliches Maß«, kann die Regierung einen »Schutzmechanismus« beantragen, um Sozialleistungen wie Lohnzuschüsse und den Anspruch auf Sozialwohnungen zu kürzen oder zu streichen.
Die Summe, um die es dabei geht, entspricht im britischen Jahresbudget gerade mal dem Betrag, den die Regierung in einer halben Stunde ausgibt, rechnete die Tageszeitung The Guardian kürzlich vor. Die Kürzungen sollen aber den Briten die Sorge nehmen, mit der EU-Mitgliedschaft würden Ausländer finanziell begünstigt.
In Brüssel hatten vor allem osteuropäische EU-Staaten, die sich vehement gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wenden, gegen Kürzungen beim Kindergeld protestiert. In den vergangenen Jahren arbeiteten zeitweise Hunderttausende Polen in Großbritannien und profitierten von dieser Leistung. Den meisten europäischen Politikern gefällt Camerons Plan jedoch. Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstützte die Forderung ebenso wie der dänische Ministerpräsident Lars Rasmussen, der sogar behauptete, die Idee stamme ursprünglich von ihm.
Die anderen Ergebnisse, die Cameron nun als großes Zugeständnis präsentiert, haben vor allem symbolischen Charakter. So wurde in den Verhandlungen der Sonderstatus des Landes in der EU festgeschrieben. Großbritannien muss nicht mitmachen, wenn die EU-Staaten immer enger zusammenrücken wollen. Ebenso kann die Regierung in London weiterhin der Euro-Zone fernbleiben und muss keine Zahlungen im Zusammenhang mit der Gemeinschaftswährung fürchten. Das bekräftigen aber im Wesentlichen einen Status quo, den derzeit sowieso niemand ernsthaft verändern will. Das dient vor allem dazu, vorhandene britische Ressentiments zu beschwichtigen.
Tatsächlich sprechen viele Argumente für einen Verbleib des Königreichs in der Europäischen Union. Die wirtschaftlichen und politischen Folgen eines Austritts wären vermutlich dramatisch und würden gerade das provozieren, wovor die Austrittsbefürworter für den Fall eines Verbleibs in der EU eindringlich warnen: einen stärkeren Bedeutungsverlust Großbritan­niens in der Welt. Cameron kann daher auf breite Unterstützung hoffen. Neben den wichtigsten Mitgliedern seines Kabinetts sind auch die meisten Oppositionspolitiker für den Verbleib in der EU, ebenso wie die Mehrheit der Wirtschaftsverbände und die Bank of England. Auch sämtliche europäische Regierungen und die der USA unterstützen die Austrittsgegner. Hinzu kommt, dass im Falle eines Austritts die mehrheitlich EU-freundlichen Schotten wohl ein neues Referendum über die Unabhängigkeit anstreben würden. Wenn Großbritannien die EU verlässt, könnte dies das Ende des Vereinigten Königreichs bedeuten.
Auf der anderen Seite stehen neben den sechs abtrünnigen Ministern sowie den überwiegend europaskeptischen Tories vor allem oppositionelle Politiker wie der Ukip-Vorsitzende ­Nigel Farage und der ehemalige Labour-Abgeordnete George Galloway, der 2014 die Stadt Bradford zur »israelfreien Zone« erklärt hatte. Außerhalb Großbritanniens begrüßen Politiker wie Marine Le Pen vom französischen Front National einen möglichen EU-Austritt des Landes.
Vielleicht könnte aber gerade die Unterstützung durch das Establishment in Westminster die Austrittsgegnera scheitern lassen. In gewisser Weise ist Großbritannien mental näher am Kontinent, als den meisten EU-Skeptikern lieb sein kann. Denn auch auf der Insel gibt es eine starke Stimmung gegen die political elite und »Fremdbestimmung«. Weil sich die europäischen ­Politiker seit Monaten ergebnislos über die Flüchtlingspolitik streiten, hat sich die isolationistische Stimmung noch verstärkt. Viel wird daher in den kommenden vier Monaten davon abhängen, wie sich in Europa der weitere Umgang mit den Flüchtlingen gestaltet. So gesehen könnte sich das Referendum nicht auf der Insel, sondern auf dem Kontinent entscheiden.