Der »Jungle« in Calais wird teilweise geräumt

Bewegung am Kanal

Am Montag begann die Teilräumung des Flüchtlingslagers von Calais, nachdem ein französisches Gericht sie genehmigt hatte. Bereits vor der gerichtlichen Entscheidung befürchtete Belgien einen Ansturm der Campbewohner auf die Küstenstadt Zeebrugge und führte vorsorglich Grenzkontrollen ein. Doch die Menschen aus Calais haben an Belgien kein Interesse: Ihr Ziel ist Großbritannien. Ein Bericht über die Lage an der belgisch-französischen Grenze.

Das ehemalige Zollhäuschen steht eigentlich längst leer. Mit dem Werbe- Schriftzug einer belgischen Pralinenmarke wirkt es eher wie ein Teil einer Filmkulisse. Fünf Soldaten in dunkelblauen Uniformen stehen mitten auf der Straße. Sie tun, was sie hier schon lange nicht mehr getan haben: Sie halten die Autos an, die aus Frankreich kommen, spähen auf Rücksitze, öffnen Kofferräume. Die Menschen, die gesucht werden, sitzen aber in Bussen, die aus dem französischen Dunkerque kommen und weiter nach De Panne fahren, dem ersten Ort auf der belgischen Seite der Grenze. 20 Personen hätten sie an diesem Tag schon herausgeholt und zurück nach Frankreich geschickt, sagt einer der Polizisten am frühen Nachmittag. Die Autos stauen sich auf der schmalen Straße. Passierende Hobbyradrennfahrer blicken verwundert auf das Geschehen an der Grenze.
Tags zuvor gab Jan Jambon, der belgische Innenminister von der rechtskonservativen Neu-Flämischen Allianz (N-VA), vor der Presse den Einsatz von 250 bis 290 Polizisten an der Grenze zu Frankreich bekannt. Der EU-Kommission hat er mitgeteilt, Belgien setze den Schengen-Vertrag für drei Monate außer Kraft, und danach vielleicht noch für drei weitere.
Der Grund dafür liegt 60 Kilometer südwestlich hinter der Grenze: das Flüchtlingscamp in den Dünen bei Calais. Bereits bevor das zuständige Verwaltungsgericht in Lille die Teilräumung des Camps vergangene Woche für rechtmäßig erklärte, hatte der ­belgische Innenminister auf Prävention gesetzt: »Wir sehen jetzt schon eine Bewegung in Richtung Belgien. Gestern haben wir 34 Menschen in Adinkerke festgenommen. Das Potential liegt bei mehreren Tausend.«
Auf der Pressekonferenz sitzt neben Jambon, der Gouverneur der Grenzprovinz Westflandern, Carl Decaluwé. Vor einigen Wochen machte er mit dem Aufruf Schlagzeilen, Bewohner der Küste sollten Transitmigranten, die nach England zu kommen versuchen, kein Essen geben, da sonst noch mehr kommen würden. Die französische Presse zog eine Parallele zwischen seinen Worten und dem nahezu identisch formulierten Aufruf auf Schildern: »Bitte die Möwen nicht füttern!«
Jetzt rechnet Decaluwé vor: 362 »Illegale« fand die Polizei im November in der Provinz, 783 im Dezember, 950 im Januar, und im Februar auch schon wieder 750. Von Essen spricht Decaluwé lieber nicht mehr, dafür hat er bereits viel Kritik bekommen. Natürlich weiß der Gouverneur, dass es nahezu unmöglich geworden ist, von Calais aus England zu erreichen. Und wird der Druck für Transitmigranten in Calais zu hoch, ziehen sie weiter zu anderen Häfen.
Früher war das vor allem Oostende. Doch seit dort vor einigen Jahren der Fährverkehr nach Ramsgate eingestellt wurde, bleibt in Belgien nur noch Zeebrugge, im Norden der kurzen Küste gelegen. Im Sommer 2014 wurden im britischen Hafen von Tilbury, Essex, 35 Flüchtlinge größtenteils afghanischer Herkunft in einem Container gefunden, der aus Zeebrugge kam. Einer der Männer überlebte die Reise nicht. Ein Jahr später war Zeebrugge immer noch ein Standort für die Überfahrt blinder Passagiere, doch das Geschehen spielte sich meist im Verborgenen ab. Sichtbar blieben nur Spuren, wenn beispielsweise ein leerstehendes Feriendomizil Transitmigranten als kurfristiger Unterschlupf gedient hatte.
Die Angst vor einem belgischen »Dschungel«
Inzwischen ist die Gruppe iranischer Männer kaum zu übersehen, deren Anlaufpunkt die Kirche Stella Maris am Strand von Zeebrugge ist. Was die Befürchtung des Gouverneurs angeht: Die Hilfe, die sie von einer Gruppe Freiwilligen um den Pfarrer Fernand Maréchal erfahren, spielt dabei eine Rolle. Doch an die belgische Küste gekommen sind sie aus diesem Grund nicht. »In Calais ist es wegen Auseinandersetzungen unter den Schleppern nicht sicher«, erzählt ein Mann mittleren Alters, der sich als Reza vorstellt. Außerdem fordern die verschärften Sicherheitsmaßnahmen ihren Preis: Eine von Schleusern arrangierte Passage nach England koste mittlerweile mehrere Tausend Pfund. »Das können wir nicht bezahlen.«
Am Abend des zweiten Tags nach der Einführung der Grenzkontrollen steht Reza, dunkle Jacke und dicke Mütze, vor der weiß getünchten Kirche, die von einfachen Wohnhäusern um­geben ist. In der Hand hat er eine Plastikschale mit Huhn, Reis und Gemüsesauce. Etwa 25 Männer sind zur Essensausgabe gekommen, alle aus dem Iran, die meisten sind Reza zufolge Christen, die vor der Religionspolizei flohen. Zwei der Freiwilligen haben den Eindruck, dass es mehr sind als in den ­vorigen Tagen. Auf Calais angesprochen, schüttelt Reza den Kopf. Von den Anwesenden, sagt er, sei niemand von dort gekommen. Am Abend gibt die Polizei bekannt, dass sie an diesem Tag 102 Flüchtlinge an der Grenze zurückgeschickt habe.
Das nahe Hafengelände ist unübersichtlich. »Aber wenn man vier Monate hier ist, finden sich Möglichkeiten«, sagt Reza, während sich die Dämmerung über die Kirche legt. Löcher im Zaun um den Hafen künden von den Versuchen, sich dahinter in einem Container zu verstecken. Reza sagt, erst vor ein paar Tagen hätten es einige aus der Gruppe hinüber nach England geschafft. Eine Streife fährt vorbei. »Go inside«, raunt eine Helferin den Iranern zu. Offiziell dürfen sie sich nicht mehr um die Kirche herum aufhalten. Zu viele Beschwerden aus der Nachbarschaft, sagt die Frau. Drinnen sind sie sicher.
Der für die Kirche zuständige Mann ist inzwischen in ganz Belgien bekannt. Fernand Maréchal hat sich dem Aufruf, Flüchtlingen kein Essen zu geben, öffentlich widersetzt. In kalten Nächten stellt er den Iranern auch die Kirche als Schlafplatz zur Verfügung. An diesem Abend ist Maréchal, Ende 60, nachdenklich. Ihn ärgern die Medienberichte über ein »neues Calais« in Zeebrugge, die den Menschen Angst machten. »Andererseits hoffe ich auch, dass nicht Hunderte kommen. Dann wäre unser Kredit bei den Leuten hier aufgebraucht, und wir könnten das mit unseren Freiwilligen auch nicht bewerkstelligen.«
Tage später wartet man an der belgischen Küste noch immer auf den Ansturm aus Calais. Inzwischen hat das Verwaltungsgericht in Lille seine Zustimmung zur Teilräumung erteilt.
Am Montagmorgen begannen die französischen Behörden mit Hilfe von Bulldozern und unter starkem Polizeischutz mit der Teilräumung des südlichen Teils des Camps. Im Laufe des Tages eskalierte der Protest von Flüchtlingen und Hilfsorganisationen gegen die Räumung. Mehrere Zelte und provisorische, selbstgebaute Unterkünfte wurden in Brand gesetzt. Die franzö­sischen Einsatzkräfte gingen auch mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Protestierenden vor. Eine Demons­trantin, Mitglied der britischen Orga­nisation No Borders, sei festgenommen worden, berichtete der französische Sender BFMTV. Am frühen Abend blockierte eine Gruppe von rund 150 Flüchtlingen eine Straße in der Nähe des Camps, einige von ihnen warfen nach einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP Steine auf Fahrzeuge, die auf dem Weg zur Verladung nach Großbritannien waren. Am Dienstag wurden die Räumungsarbeiten fortgesetzt und dauerten bei Redaktionsschluss am Dienstagnachmittag noch an. Die Präfektur der nordfranzösischen Hafenstadt rechnet mit einer mehrwöchigen Dauer der Räumung.
In den vergangenen Wochen hatte es noch den Versuch gegeben, die Räumung vor Gericht zu verhindern. Die Kläger – mehrere Einzelpersonen sowie vier NGOs – hätten noch vor den Conseil d’Etat, das oberste Verwaltungsgericht in Frankreich, ziehen können. Aber eine Klage dort hätte keine aufschiebende Wirkung gehabt und die Räumung nicht verhindern können.
Wann die Räumung genau erfolgen würde, war bis wenigen Stunden vor Beginn unbekannt geblieben. Damit, dass sie bald stattfinden würde, war ­allerdings zu rechnen, denn die Touristensaison an der Nordsee steht kurz bevor. Und die, sagte der belgische Gouverneur neulich, ist »von vitaler Bedeutung«. Innenminister Jambon verkündete zum Wochenende, die Grenzkontrollen vorerst beizubehalten. Rund um Bray-Dunes sind alle Hauptübergänge von Grenzern besetzt. Durch die Dünen streifen Polizisten auf Pferden, auch am Strand sind sie unterwegs.
An der grünen Grenze im Landesinneren bei Houtem sieht das anders aus. Die einzigen Menschen sind die Gäste eines Cafés, die zu Mittag nach Landessitte die ersten Drinks zu sich nehmen.
Bloß weg aus Frankreich
Der ehemalige französische Premierminister Alain Juppé zweifelt an der Wirksamkeit von Grenzkontrollen: »Es gibt, glaube ich, 1 500 Übergänge und manchmal ist das einfach eine Dorfstraße.« Juppé, der derzeit als einer der aussichtsreichsten Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur der konservativen französischen Republikaner (früher UMP) für die Wahl 2017 gilt, besuchte am 27. Januar die Örtlichkeiten in Calais. In der regionalen Presse sagte er, er sei gekommen, um seine Parteifreundin Natacha Bouchart, die Bürgermeisterin von Calais, zu unterstützen. Sie hatte seit Oktober vorigen Jahres wiederholt den Einsatz der Armee in Calais gefordert, denn Polizei und Gendarmerie könnten die Lage nicht länger kontrollieren. Juppé, der als eher moderater bürgerlicher Rechter gilt, wiegelte ab: Ja, die Armee könne »unterstützend eingreifen«, aber, fügte er hinzu, »ich glaube, dies ist nicht vorrangig ihre Rolle«.
Juppé regte an, auch die britischen Behörden müssten »ihren Teil an Verantwortung« übernehmen. Etwa indem britische Beamte in Calais überprüften, wer im Vereinigten Königreich aufnahmeberechtigt sei, um diese Menschen über den Ärmelkanal zu lassen. Dabei bezieht sich der frühere Premier- und Außenminister wohl auch auf ein britisches Gerichtsurteil vom 21. Januar, das erstmals vier bis ­dahin im Flüchtlingscamp von Calais festsitzenden unbegleiteten Minderjährigen erlaubte, zu ihren in England lebenden Familien zu reisen.
Einmal England und nicht zurück
Nicht verschreckt von der Aussicht, in Calais auf Vertreter der britischen Migrationsbehörden zu treffen, zeigt sich Abu Awar. Der weißbärtige Mann ist ein bidoun, ein staatenloser Araber aus Kuwait. Er wohnt derzeit im Camp von Calais. Wie viele Menschen in der Region wurden auch die Mitglieder seiner Familie nach der Unabhängigkeit des Kleinstaats am Golf von der britischen Kolonialmacht 1961 nicht als Staatsbürger anerkannt. Als die Grenzen mit dem Reißbrett gezogen wurden, lebte seine Familie wie viele andere beiderseits der Linie. Heute sind die bidoun in den Golfmonarchien weitgehend rechtlos. Einige seiner Angehörigen sitzen im Gefängnis. Abu Awar rechnet vor, die Reise bis nach Europa habe ihn 5 000 Euro gekostet, die Weiterreise bis nach Calais nochmals 1 500 Euro. Nun glaubt er, wenn die britischen Behörden erst einmal Kenntnis von seiner Situation hätten, sei die Sache für ihn geregelt: Den bidoun aus der ehemaligen britischen Kolonie werde ein spezieller Schutzstatus als Staatenlose zuerkannt – wenn sie es denn einmal bis auf englischen Boden geschafft haben. Nicht alle im Camp rechnen sich so gute Chancen aus wie Abu Awar.
Patrick ist im Hauptberuf Richter und Mitglied der Justizgewerkschaft Syndicat de la magistrature (SM). Er engagiert sich ehrenamtlich für Flüchtlinge und nahm vergangene Woche in Lille am Prozess vor dem Verwaltungsgericht teil. Seine Organisation unterstützt die vier NGOs, die gegen die Räumung geklagt haben – Care4Calais, L’Auberge des migrants, Utopia und Help Refugees.
Das Gericht argumentierte, die Lage vor Ort sei unhaltbar geworden, führe zu Übergriffen und Gewalt. Das Innenministerium führte die in den vergangenen Wochen sich häufenden rassistischen Gewaltakte auf die allgemeine Anspannung und Verzweiflung von Anwohnern, Polizisten und Migranten gleichermaßen zurück. Anlässlich ­einer Solidaritätsdemonstration von 3 000 Menschen in Calais Ende Januar war die Stimmung tatsächlich höchst angespannt. Nach seinen Befindlichkeiten gefragt, antwortete ein Einwohner: »Nimm deine Kanacken doch mit, wohin immer du willst!« Ein 21jähriger, der zuvor schon wegen rechts­extremer Aktivitäten bekannt war, holte gar beim Vorbeiziehen der Demonstration ein Jagdgewehr aus dem Haus. Ein ­Anwohner griff vor seinem Hauseingang Demonstrierende mit einem Schlagstock an. Gegen ihn wurde ein Strafverfahren eröffnet.
Das Gericht nahm diese und ähnliche Episoden zum Anlass, die Räumung der Südhälfte des Camps zu genehmigen. Es handelt sich dabei um den Teil, der am nächsten an den Zufahrtsstraßen zum Hafen und zur Stadt liegt.
Umsiedlung in High-Tech-Container
Dennoch sieht Patrick den Kampf für die Solidarität mit den Flüchtlingen noch nicht verloren. Gericht und Staatsvertreter seien durch das offensive Auftreten der NGOs mit ihrer Klage gezwungen worden, ihre Sorge für die humanitäre Situation der Campbewohner hervorzuheben. So wurden einige Örtlichkeiten im Camp ausdrücklich von der bevorstehenden Räumung ausgenommen, nämlich solche, die als ­lieux de vie (Lebensorte) bezeichnen werden: Gotteshäuser, Künstlerwerkstätten, die Schule im Camp, an der Französisch und Englisch unterrichtet wird, und das von den NGOs eingerichtete Zentrum für Rechtsberatung.
Ein Teil der bisher in Zelten und provisorischen Behausungen lebenden Menschen soll in Container umgesiedelt werden, die im Nordteil des Camps aufgestellt worden sind. In jeder möblierten und beheizten Containereinheit soll Platz für zwölf Personen sein. Die Container sind außerdem mit moderner Technologie ausgestattet, die eine Erkennung der Bewohner durch die Handfläche oder den Fingerabdruck gewährleistet – und die Unterstützer draußen halten soll. Viele Flüchtlinge wollen aus diesen Gründen nicht in die Container ziehen. Ihnen bietet der französische Staat nun noch eine andere Möglichkeit an: Für eine Höchstdauer von drei Monaten sollen sie in so genannten Centres de répit (Atempausezentren) oder »Aufnahme- und Orientierungszentren« (CAO) unterkommen. Dort sollen sie zwischen einem Asylantrag in Frankreich und einer »freiwilligen Ausreise« wählen. Die Sache mit England sollen sie sich hingegen lieber aus dem Kopf schlagen.
Anfang Februar zogen bereits die ersten Flüchtlinge aus Calais in ein solches Zentrum im südfranzösischen Bezirk Lozère. Doch die CAO erweisen sich für jene als Falle, die einen Fingerabdruck in einem EU-Mitgliedstaat bei der Durchreise hinterließen und aufgrund des Dublin-Abkommens nun dorthin zurückgeschickt werden sollen. Sudanesen, die über die italienischen Mittelmeerinseln in die EU gereist waren, wurden etwa im Raum Toulouse in einem CAO identifiziert und unter Hausarrest gestellt. NGOs geben an, 54 Prozent der Menschen in den CAO seien in einer solchen juristischen Situation. Ihnen droht die Abschiebung. Verteilt auf verschiedenste Standorte in Frankreichs, werden sie davor weniger geschützt sein als umgeben von Unterstützerinnen, NGO-Aktivisten und anderen Flüchtlingen in Calais.