Mehr als ein Idiot

Der Karneval ist das institutionalisierte Sau-Rauslassen für den gehorsamen Untertanen. Er soll rebellische Regungen kana­lisieren – laut, ritualisiert, alkoholschwanger und folgenlos. Ob der Bezug auf die Tradition des Karnevals mit großen Hintergedanken gewählt wurde, lässt sich am Sonntag in Berlin nicht mehr ­ersehen. Der »Karneval der Geflüchteten« zieht durch die Stadt, getragen von einer großen Koalition diverser Gruppen und Institu­tionen, von kirchennah bis zu Theatern wie dem Grips. Gerade diese Breite war allerdings nicht unwidersprochen ge­blieben. Dass die »Boycott, Divestment, Sanctions Group Berlin« (BDS) und »For One State and Return in Palestine« (FOR) nicht bloß mitlaufen, sondern auch mitaufrufen durften, war einigen sauer aufgestoßen. Das Berliner Büro des American Jewish Committee etwa fragte ­öffentlich an, was Gruppen, die die Vernichtung Israels propagieren, auf einer antirassistischen Veranstaltung zu suchen hätten. Die Kritiker schafften es sogar in die lokale Presse. Eine Antwort des Bündnisses gab es nicht. Einzelne Vertreterinnen und Ver­treter ­gaben unter anderem dem RBB zu verstehen, dass man sich nicht dafür verantwortlich fühle, wenn »irgendein Idiot sich ein Mikrophon nimmt«, so Stefan Fischer-Fels vom Grips-Theater.
Auf der Demonstration ist es unter den ungefähr 3 000 Teilnehmenden aber nicht bloß ein einzelner »Idiot«, der sich ein Mikrophon nimmt. Es sind deutlich mehr und sie haben eigene Lautsprecherwagen mitgebracht. Auf dem ersten Wagen befindet sich der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) zufolge auch eine Mitorganisatorin der jährlichen al-Quds-Demonstration. An den zwei folgenden Wagen sind entsprechende Transparente befestigt. Recht weit vorne im Zug, zwischen dem zweiten und dem dritten Wagen, ist die BDS-Bewegung mit ihren Transparenten vertreten. Zwar halten die übrigen Demonstra­tionsteilnehmer Abstand, der Zug dünnt sich hinter den antiisraelischen Gruppen merklich aus, bevor er sich weiter hinten wieder verdichtet. Eine tatsächliche Trennung aber gibt es nicht. Im weiteren Verlauf der Demonstration wird über Twitter auch von »Intifada«-Rufen berichtet. Gestört haben diese Parolen offenbar nur wenige.
Auch nach dem Karneval bleibt eine Stellungnahme der Organisatoren aus. Die Liste der am Zug beteiligten Gruppen verschwand schon früher von der Homepage, blieb allerdings an anderer Stelle auf derselben Seite sehr wohl einsehbar. Ansonsten herrscht beharrliches Schweigen. Womit sich auch der »Karneval der Geflüchteten« einreiht in die lange Reihe deutscher Karnevalsumzüge, auf denen die zur Schau gestellte Feindschaft gegen die Juden die Begeisterung von Organisierenden und Teilnehmenden nicht trüben konnte.